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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 13.10.2006 - 24 B 06.1175 - asyl.net: M9263
https://www.asyl.net/rsdb/M9263
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Krankheit, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Reisefähigkeit, psychische Erkrankung, Angststörung, depressive Störung, Suizidgefahr, fachärztliche Stellungnahmen, Amtsarzt, Beweiswürdigung, Sachverständige, Sachverständigengutachten, Sachaufklärungspflicht, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ausweisungsgrund, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Geltungsdauer
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 26 Abs. 1; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1; VwGO § 86 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg. Sie führt unter Aufhebung der behördlichen sowie der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zur Verpflichtung des Beklagten, den Klägern jeweils eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

a) Der Anspruch der Kläger auf Erteilung eines Aufenthaltstitels findet seine Grundlage in § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG.

b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür sind erfüllt.

(1) Der Ausreise des Klägers zu 1 stehen voraussichtlich auf absehbare Zeit seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen entgegen. Eine körperliche oder psychische Erkrankung kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis dann begründen, wenn der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. wenn sich sein Gesundheitszustand durch die Ortsveränderung wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmalig entstehen würde. Eine Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne wird in der Rechtsprechung auch angenommen, wenn ein ernsthaftes Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtert (VGH BW vom 10.7.2003 InfAuslR 2003, 423/427; vgl. a. Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, RdNr. 90 zu § 25 AufenthG).

Der Kläger zu 1 leidet an einer Erkrankung, die seine Ausreise unmöglich macht. Es ist auch auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, dass sich diese Situation ändert und sich sein Zustand verbessert. Diese Einschätzung folgt aus den in den Behörden- und Gerichtsakten enthaltenen fachlichen Aussagen mehrerer Ärzte sowie den nachvollziehbaren Angaben des in der mündlichen Verhandlung einvernommenen sachverständigen Zeugen. Der Kläger leidet seit einiger Zeit an psychischen Problemen. Er befand sich im Bundesgebiet erstmals im Juli 2005 in stationärer Behandlung. Aus der ärztlichen Bescheinigung der psychiatrischen Klinik vom 11. August 2005 (Bl. 561 der Behördenakte) ergibt sich, dass eine Angst- und depressive Störung vorliege.

Auf den Seiten 10 bis 13 der erstinstanzlichen Entscheidung ist mehrfach ausgeführt, dass die Aussagen der Gutachter nicht nachvollziehbar seien. Es sei ihnen nicht zu entnehmen, dass mit dem Wegfall der Probleme in absehbarer Zeit nicht zu rechnen wäre. Die vom Gutachter angenommene schlechtere Prognose sei nicht nachvollziehbar. Auch die nervenärztliche Vermutung einer posttraumatischen Belastungsstörung sei nicht nachvollziehbar. Ein derart ungewöhnlicher Verlauf erfordere zur Glaubhaftmachung eingehende Untersuchungen und Darlegungen. Das vorgelegte Gutachten leide daran, dass es von tatsächlichen Grundlagen ausgehe, die in den Akten keine Bestätigung fänden. Das Verwaltungsgericht Regensburg hat damit die vorgelegten Gutachten ernsthaft in Zweifel gezogen. Dabei ist allerdings nicht erkennbar, auf welche fachliche Qualifikation das Gericht diese Beurteilung stützt. Letztlich setzt das Gericht eine eigene medizinische Einschätzung an die Stelle der hierzu berufenen, kompetenten fachlichen Stellen. Eine solche Vorgehensweise liegt außerhalb des durch § 108 Abs. 1 VwGO vorgegebenen Rahmens. Nach Satz 1 dieser Vorschrift entscheidet das Gericht zwar nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dies bedeutet, dass das Gericht bei der Würdigung und Abwägung aller für die Feststellung des für seine Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts erheblichen Tatsachen frei, d.h. nur an die innere Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Argumente gebunden ist (vgl. Kopp/Schenke, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Aufl. 2005, RdNr. 4 zu § 108 VwGO). Daraus folgt unter anderem auch, dass das Gericht nicht an die Aussagen in einem vorliegenden Gutachten zwingend gebunden ist. Es kann hiervon abweichen, wenn das Gutachten an erheblichen Mängeln leidet (siehe hierzu Kopp/Schenke, a.a.O., RdNr. 10). Ein solcher Fall ist vorliegend aber nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht Regensburg hat nicht nachvollziehbar dargelegt, warum es Zweifel an der Beurteilung durch mehrere hierzu eingeholte Gutachten hat. Das Gericht hat es dabei insbesondere auch unterlassen, den Sachverhalt weiter zu erforschen. Es hat damit gegen seine aus § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO bestehende Untersuchungspflicht verstoßen (vgl. dazu BVerwG vom 24.5.2006 Asylmagazin 2006, 24). Selbst wenn man dem Verwaltungsgericht - wofür vorliegend indes keinerlei Anhaltspunkte bestehen - zugesteht, die Aussagen mehrerer fachlich kompetenter Gutachter in Zweifel zu ziehen, so kann es dies nicht - wie geschehen - den Klägern anlasten und diesen einen bestehenden Anspruch verweigern. Vielmehr wäre es gehalten gewesen, einen weiteren Gutachter zu beauftragen oder zumindest die behandelnden Ärzte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung anzuhören. All dies ist nicht erfolgt. Eine vertretbare Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht liegt damit nicht vor.

Auch das Landratsamt teilt im Schriftsatz vom 4. Oktober 2006 lediglich mit, dass es nicht verhehlen könne, dass es die Feststellung der Reiseunfähigkeit des Klägers anhand der getroffenen Diagnose nicht nachvollziehen könne. Diese Aussage ist aber nicht geeignet, mehrere übereinstimmende fachärztliche Aussagen in Zweifel zu ziehen. Das Landratsamt hat dabei insbesondere verkannt, dass der Aussage des Gesundheitsamts eine besondere Wertigkeit zugestanden werden muss. Amtsärztlichen Gutachten kommt regelmäßig ein größerer Beweiswert hinsichtlich der zu beurteilenden Fragen zu, als dies bei privatärztlichen Aussagen der Fall ist (vgl. hierzu BayVGH vom 18.8.2006 Az. 24 CE 06.1377 m.w.N.; vgl. a. BVerwG vom 20.1.1976 BVerwGE 53, 118). Die beim Gesundheitsamt tätigen Ärzte unterliegen nämlich zum einen einer besonderen Pflicht zur unparteiischen Aufgabenerfüllung. Zum anderen verfügen sie regelmäßig über einen besonderen Sachverstand betreffend die Belange der Verwaltung sowie über besondere Erfahrung aufgrund ihrer Tätigkeit in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle. Sie sind daher grundsätzlich eher als ein privater Arzt in der Lage, die getroffene medizinische Diagnose angesichts der Besonderheiten der verwaltungsrechtlichen Problematik zu stellen. Daraus folgt, dass den Aussagen des in einem ausländerrechtlichen Verfahren eingeschalteten amtsärztlichen Gutachters ein besonderer Beweiswert zukommt, da dieser in aller Regel über ein hohes Maß an Neutralität, Erfahrung und Fachkunde verfügt. Die Ausländerbehörde kann nicht ohne weitere konkret vorliegende Erkenntnisse von den Bewertungen durch das von ihr selbst zur Klärung medizinischer Sachverhalte beauftragte Gesundheitsamt abweichen.

(2) Die Ausreise der Klägerin zu 2 ist derzeit und auf absehbare Zeit aus rechtlichen Gründen unmöglich, ohne dass sie an diesem Ausreisehindernis ein Verschulden trifft.

c) Die Kläger werden schon weit länger als 18 Monate in der Bundesrepublik geduldet. Nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG soll ihnen damit eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.

d) Dem Anspruch der Kläger steht auch die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht entgegen.

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt danach in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Nach § 5 Abs. 3 Halbsatz 2 AufenthG kann in den übrigen Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 hiervon abgesehen werden.

Nach Nr. 5.3.4.2 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz können Ausweisungstatbestände dabei bis zu der Grenze außer Betracht bleiben, die auch eine Aufenthaltsverfestigung nicht verhindert. Verwiesen wird auf § 9 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG, wonach die Niederlassungserlaubnis zu erteilen ist, wenn der Ausländer in den letzten drei Jahren nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder einer Geldstrafe von mindestens 180 Tagessätzen verurteilt worden ist.

Legt man dies zugrunde, so erweist sich die von der Beklagten getroffene Entscheidung - auch angesichts des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs nach § 114 Satz 1 VwGO - als rechtlich nicht zutreffend.

Erstmals im Schriftsatz vom 4. Oktober 2006 an den Senat wurde mitgeteilt, dass das Landratsamt vom Erfordernis des Vorliegens der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht absehen wolle. Aus diesem Schreiben lässt sich nicht entnehmen, dass das Landratsamt ernsthafte Ermessenserwägungen angestellt hätte. Schon insoweit erweist sich die getroffene Entscheidung als fehlerhaft.

Zudem ist nach Auffassung des Senats vorliegend das Ermessen auf Null reduziert mit der Folge, dass sich nur die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Kläger als rechtsfehlerfreie Entscheidung darstellt. Vorliegend ist nämlich zu berücksichtigen, dass nur ein einzelner strafrechtlich relevanter Verstoß dem "Sollanspruch" der Kläger entgegensteht. Es handelt sich um eine Straftat, die ihre Grundlage letztlich in einem Vergehen im Jahr 1996 hat. Die Kläger wurden wegen Urkundenfälschung zu Strafen von 90 Tagessätzen und damit zu einer vergleichsweise geringfügigen Strafe verurteilt, die deutlich unter dem in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG genannten Strafmaß liegt. Es handelt sich weiter um die einzige strafrechtlich relevante Handlung, die den Klägern in ihrem langjährigen Aufenthalt in Deutschland anzulasten ist. Auf der anderen Seite war zu berücksichtigen, dass die Kläger sich weitgehend, in die hiesigen gesellschaftlichen Strukturen integriert haben und dass sie sich schon sehr lange in Deutschland aufhalten. Die Kläger beziehen (soweit ersichtlich) keine Sozialhilfe. Sie haben auch anderweitig nicht gegen deutsche Rechtsvorschriften verstoßen. Es besteht somit kein relevantes öffentliches Interesse daran, ihnen trotz bestehender Ausreiseunfähigkeit keine Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen. Dies würde auch der gesetzgeberischen Absicht widersprechen, Kettenduldungen zu vermeiden.

e) Hinsichtlich der Frage, für welchen Zeitraum diese Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, ist dem Beklagten wiederum Ermessen eingeräumt. Insoweit ist die Sache auch nicht spruchreif (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Der Senat weist allerdings darauf hin, dass die Frist sachgerecht sich danach zu richten hat, wann bei verständiger Würdigung frühestens mit einer Besserung des Krankheitszustands des Klägers zu 1 zu rechnen ist. Der Senat geht aufgrund der entsprechenden Aussage im nervenärztlichen Gutachten vom 29. September 2006 davon aus, dass ein Zeitraum von einem Jahr sich hier als den Umständen des Einzelfalls angemessen erweisen dürfte.