OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.09.2006 - 13 A 1740/05.A - asyl.net: M8872
https://www.asyl.net/rsdb/M8872
Leitsatz:

Posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo behandelbar; Stellungnahmen des behandelnden Arztes zu einem traumatisierenden Ereignis können nicht die Überzeugung begründen, dass das Ereignis tatsächlich geschehen ist

 

Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, allgemeine Gefahr, fachärztliche Stellungnahmen, Albaner, Wohnraum, medizinische Versorgung, Suizidgefahr, eigene Sachkunde, Sachaufklärungspflicht, Wiederaufgreifen des Verfahrens
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51
Auszüge:

Posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo behandelbar; Stellungnahmen des behandelnden Arztes zu einem traumatisierenden Ereignis können nicht die Überzeugung begründen, dass das Ereignis tatsächlich geschehen ist

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Von der Abschiebung eines ausreisepflichtigen Ausländers in einen anderen Staat konnte nach dem Ende 2004 ausgelaufenen § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG und soll nach dem ab Anfang Januar 2005 geltenden § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Maßstab für das Vorliegen einer im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG tatbestandsmäßigen erheblichen Gefahr für - hier nur in Betracht kommend - Leib oder Leben ist eine "Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität". Diese liegt für einen ausreisepflichtigen Ausländer bei geltend gemachter unzureichender medizinischer Behandlungsmöglichkeit im Zielstaat der Abschiebung dann vor, "wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde" (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 29. Juli 1999 - 9 C 2.99 -, juris, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383, betr. Abschiebungsschutz wegen unzureichender medizinischer Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118.05 - u. v.).

Von einer abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustands kann nicht schon dann gesprochen werden, wenn "lediglich" eine Heilung eines gegebenen Krankheitszustands des Ausländers im Abschiebungszielland nicht zu erwarten ist. Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG und § 60 Abs. 7 AufenthG, die der Realisierung der Rechte aus der EMRK dienen, soll dem Ausländer nicht eine Heilung von Krankheit unter Einsatz des sozialen Netzes der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern vor gravierender Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Leib und Leben bewahren. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. September 2004 - 13 A 3598/04.A -; so auch Schl.-H. OVG, Urteil vom 24. März 2005 - 1 LB 45/03) ist eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands - als Unterfall der Gesundheitsbeeinträchtigung von "besonderer Intensität" i. S. d. BVerwG, a. a. O. - auch nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen - die diesbezüglich in früheren Entscheidungen des Senats lediglich verkürzend gebrauchte Bezeichnung als existenzielle Gesundheitsgefahren gibt der Senat wegen möglicher Missverständlichkeit und Verwechselung mit die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG bzw. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG aufhebenden Gefahren auf -. Das Erfordernis einer besonderen Intensität der drohenden Gesundheitsschäden bzw. Zustände folgt zum einen aus dem der Vorschrift immanenten Zumutbarkeitsgedanken (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -, NVwZ 1998, 526, und Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, a. a. O., das Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland ableitet).

Es folgt des Weiteren aus der gleichen hohen Stufe der von der Vorschrift geschützten drei Rechtsgüter - Leib, Leben, Freiheit -, die das Zuerkennen eines Abschiebungshindernisses schon bei einer Gesundheitsverschlechterung, die objektiv ertragbar ist, außerhalb jeder vertretbaren Relation zur drohenden Lebensgefahr oder Freiheitsberaubung setzte. Es folgt schließlich auch aus dem gleichen Umfang und der gleichen Reichweite des Rechtsgüterschutzes für den Einzelnen im Rahmen der Gruppen betreffenden Entscheidung nach §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG wie im Rahmen der den Einzelnen betreffenden Entscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, a. a. O., in dem Zusammenhang auch Urteil vom 20. Oktober 2004 - 1 C 15.03 -, BVerwGE 122, 103, wo zum einen von einer gravierenden Verschlimmerung der Krankheit, andererseits von einer zu Gunsten des Ausländers ermessensreduzierenden "extremen" individuellen Gefahrensituation als Maßstab im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG die Rede ist).

Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Fällen der vorliegenden Problematik ist nicht durch §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 1 AufenthG gesperrt. Denn die hier geltend gemachte Gefahr einer Gesundheitsverschlimmerung im Heimatland ist nach der Rechtsprechung des Senats von individueller Art, die unter Berücksichtigung von Art und Schwere der Erkrankung des Ausländers, der ihn erwartenden Gegebenheiten im Heimatland und von Zumutbarkeitserwägungen mit Individualbezug zu beurteilen ist. Die Unterschiedlichkeit dieser Beurteilungskriterien bei den betreffenden ausreisepflichtigen Ausländern ist so groß und der Individualbezug so stark, dass allein die Gefahr der Verschlimmerung einer psychischen oder sonstigen Krankheit als maßgebliches allgemeines Abgrenzungskriterium für Menschen in ansonsten vergleichbarer Situation nicht ausreicht.

2. b) Eine Gefahr für Leib oder Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) ist auch nicht auf Grund der ärztlichen Atteste der die Klägerin behandelnden Fachärzte Dr. ... und ... sowie des Fachgutachtens des Privatdozenten Dr. ... vom 17. Dezember 2004 überwiegend wahrscheinlich, die von einer behandlungsbedürftigen PTBS der Klägerin ausgehen und unterschiedliche Auswirkungen einer Rückführung der Klägerin in ihre Heimat bzw. einer dort unzureichenden Behandlung ihrer psychischen Erkrankung auf ihren Gesundheitszustand prognostizieren.

Der ärztlichen Stellungnahme des Dr. ... kann schon deshalb keine Überzeugung begründende Bedeutung zukommen, weil es sich bei dieser um eine Äußerung des Therapeuten der Klägerin handelt. Ein Therapeut muss grundsätzlich von dem vom Patienten geklagten Leiden nebst Vorgeschichte als wahr ausgehen und will diesem auftragsgemäß helfen; demgemäß fehlt ihm die für eine Begutachtung notwendige Distanz zum Patienten und tritt er diesem nicht mit der für einen gerichtlich bestellten Gutachter notwendigen kritischen Betrachtung gegenüber. Nicht auszuschließen ist ferner ein Interesse des Therapeuten an der Weiterbehandlung seines Patienten.

d) Auch das Fachgutachten des Privatdozenten Dr. ... vom 17. Dezember 2004 kann den Senat nicht von einer bei Rückführung der Klägerin in ihre Heimat drohenden überwiegend wahrscheinlichen Krankheitsverschlimmerung von der beschriebenen für die Gewährung von Abschiebungsschutz notwendigen besonderen Intensität überzeugen.

bb) Der Senat geht deshalb von einer bei der Klägerin ausweislich des Gutachtens vom 17. Dezember 2004 vorliegenden PTBS mit bewusstseinsnaher depressiver Überlagerung aus. Eine solche Erkrankung ist nach den tatsächlichen Erkenntnissen des Senats im Kosovo grundsätzlich behandelbar (vgl. zuletzt: OVG NRW, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 13 A 261/05.A -, (dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin bekannt)).

Die Einrichtungen der staatlichen/quasi staatlichen Gesundheitsvorsorge und der sog NGO bieten im Kosovo in der Regel eine medikamentöse Behandlung der PTBS und Depressionen an - es steht eine Reihe von gängigen Psychotherapeutika zur Verfügung (vgl. hierzu Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Auskunft vom 21. Juli 2006 an VG Düsseldorf); soweit gesprächsweise Therapie angeboten wird, erfolgt diese begleitend und unterstützend - supportive Gespräche -, lediglich in Ausnahmefällen ist Psychotherapie möglich. Ambulante Behandlungen und Medikamente sind gegen eine Eigenbeteiligung zwischen 1 EUR und 4 EUR bzw. von bis zu 2 EUR erhältlich. Im Übrigen kann jedes Medikament über Apotheken gegebenenfalls aus dem Ausland - dann gegen erhöhtes Entgelt - bezogen werden. Soweit niedergelassene Therapeuten medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung von PTBS und Depression anbieten, ist das jedoch je nach Verhandlung mit Kosten von sogar über 50,- EUR pro Sitzung verbunden (vgl. zu alldem: Auswärtiges Amt, Lagebericht Kosovo (Stand: Juni 2006) und Deutsches Verbindungsbüro Kosovo, Auskunft vom 21. Juli 2006 an VG Düsseldorf).

Auch der Klägerin sind die Behandlungsmöglichkeiten für eine PTBS und Depression im Kosovo zugänglich.

cc) Die in den der Klägerin zugänglichen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung im Heimatland angebotenen Behandlungen gestalten sich ausgehend von den vorliegenden Auskünften nicht wesentlich anders als die der Klägerin in Deutschland bisher zuteil gewordene Behandlung bei Dr. ...

Eine systematische Psychotherapie erhält die Klägerin in Deutschland soweit ersichtlich nicht. Im Allgemeinen spricht bereits sehr viel dafür, dass eine psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ebenso - wie in ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung anerkannt - eine nicht psychische Erkrankung bei Rückkehr des Betroffenen in die Heimat bei einer im wesentlichen gleichen Behandlung im Heimatland wie in Deutschland keine Verschlimmerung, jedenfalls keine solche von der beschriebenen besonderen Intensität erfahren wird. Diese Annahme wird unterstützt durch den Umstand, dass sich der Betreffende, hier eine Albanerin aus dem Kosovo, im heimatlichen Kulturkreis und im befriedeten Umfeld ohne den psychischen Druck einer zwangsweisen Rückführung ihrer Person und Familie befindet.

dd) Entscheidend für den individuellen Fall der Klägerin und die auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhende zuvor dargestellte Annahme bestätigend ist allerdings, dass das eingeholte Gutachten vom 17. Dezember 2004 auch die Entwicklung der psychischen Krankheit der Klägerin nach einer Rückführung in das Kosovo bei Erlangung wie bei Nichterlangung der gebotenen Behandlung hinreichend prognostiziert.

e) Der Senat kann auch eine beachtlich wahrscheinliche Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität in der Form einer lebensbedrohenden Gesundheitsverschlechterung durch ernsthafte Suizidgefahr im Falle ihrer Rückkehr in das Kosovo nicht feststellen.

Soweit im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Mai 2006 - 1 B 118.05 - n. v. die Rede ist von der Sachkunde des Gerichts, beurteilen zu können, ob für die Klägerin im Abschiebezielstaat … eine ernste Suizidgefahr voraussichtlich ... "ausgeschlossen" werden kann, sieht der Senat darin keine Aufgabe des Maßstabs der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" der wesentlichen Gesundheitsbeeinträchtigung für die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Denn "ausgeschlossen" werden kann ein Suizid, die intensivste Form der Gesundheitsverschlechterung, eines zwangsweise in die Heimat zurückgeführten ausreisepflichtigen Ausländers, wie auf Fachtagungen von fachkundiger Seite erklärt worden ist, von keinem Therapeuten oder Gutachter. Zudem wird der in Deutschland regelmäßig nicht ernsthaft zum Suizid bereite Ausländer, wie ebenfalls fachkundig vertreten worden ist, ernsthafte Suizidgedanken allenfalls in einer besonderen, ausweglosen Situation im Heimatland entwickeln, was aber von einem objektiv und spekulationsfrei wertenden Fachmann mit für eine richterliche Tatsachenfeststellung notwendiger Sicherheit regelmäßig nicht vorausgesagt werden kann.

Vorliegend konnte bei der Klägerin ausweislich Bl. 17 des Gutachtens vom 17. Dezember 2004 eine latente Suizidgefahr nicht festgestellt werden. Dies leuchtet ein, nachdem er eine in der Persönlichkeit der Klägerin verborgene Suizidneigung oder eine innere Beschäftigung mit dem Suizid - Suizidalität - bereits nicht hatte feststellen können. Für eine für die Klägerin im Kosovo zu erwartende ausweglose Lage, die sie in einen Suizid treiben könnte, liegen angesichts der gegenwärtigen Sicherheitslage für Albaner im Kosovo, der dortigen Unterkunftsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung keine Anhaltspunkte vor. Die fehlenden Anhaltspunkte für eine ernsthafte Suizidgefahr für die Klägerin bei ihrer Rückkehr in die Heimat fügt sich in das Gesamtbild der vorliegenden Erkenntnisquellen, wonach die Zahl der Suizide im Kosovo im Vergleich zu anderen europäischen Staaten in Ost und West außerordentlich gering ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Kosovo, Stand: Juni 2006).