FG Nürnberg

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Zitieren als:
FG Nürnberg, Urteil vom 06.04.2006 - IV 38/2006 - asyl.net: M8789
https://www.asyl.net/rsdb/M8789
Leitsatz:

§ 62 Abs. 2 S. 1 EStG (Kindergeld) in der Fassung von 1996 ist verfassungswidrig; Inhaber einer Aufenthaltsbefugnis haben Anspruch auf Kindergeld nach der bis zum 31.12.1993 geltenden Fassung des § 1 Abs. 3 S. 1 BKGG.

 

Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Aufenthaltsbefugnis, Gleichheitsgrundsatz, Vorlagebeschluss, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsmäßigkeit, Erlaubnisfiktion, Zinsen, Verzinsung
Normen: EStG § 78 Abs. 1 S. 1 a.F.; EStG § 62 Abs. 2 S. 1 a.F.; AuslG § 15; AuslG § 30; BKGG § 1 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1; GG Art. 100 Abs. 1; AuslG § 69 Abs. 3 S. 1; AO § 233 S. 1
Auszüge:

§ 62 Abs. 2 S. 1 EStG (Kindergeld) in der Fassung von 1996 ist verfassungswidrig; Inhaber einer Aufenthaltsbefugnis haben Anspruch auf Kindergeld nach der bis zum 31.12.1993 geltenden Fassung des § 1 Abs. 3 S. 1 BKGG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat im Wesentlichen Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter A für die Monate Januar 1996 bis März 1997.

2. Nach § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG in der für den Streitfall anzuwendenden Fassung hat ein Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung (§ 27 Ausländergesetz - AuslG -) oder einer Aufenthaltserlaubnis (§ 15 AuslG) ist. Andere Aufenthaltsgenehmigungen (z. B. eine Aufenthaltsbewilligung oder -befugnis, §§ 28, 30 AuslG) oder eine Duldung (§ 55 Abs. 1 AuslG) sind von der bisher herrschenden Meinung (vgl. hierzu Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 23. Aufl., § 62 Rz. 8 m.w.N.) als nicht ausreichend angesehen worden. Danach wäre ein Kindergeldanspruch des Klägers für die Monate Januar 1996 bis März 1997 mangels Besitz eines entsprechenden Aufenthaltstitels nicht gegeben.

Mit Beschluss vom 06.07.2004 1 BvL 4/97 (HFR 2005, 162) hat jedoch das Bundesverfassungsgericht zu der bezüglich der erforderlichen Aufenthaltstitel identischen Vorschrift des § 1 Abs. 3 BKGG in der Fassung des 1. Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21.12.1993 (1. SKWPG, BGBl. I, 2353) entschieden, dass diese Regelung nach Maßgabe der Entscheidungsgründe mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar ist. Ersetzt der Gesetzgeber die verfassungswidrige Regelung nicht bis zum 01.01.2006 durch eine Neuregelung, ist auf noch nicht abgeschlossene Verfahren das bis zum 31.12.1993 geltende Recht anzuwenden. Unter anderem wird in dieser Entscheidung ausgeführt, dass die Aufenthaltsbefugnis eine mögliche Vorstufe zum Daueraufenthalt darstellt, ein Umstand, auf den auch in der Gesetzesbegründung anlässlich der Einführung dieses Aufenthaltstitels ausdrücklich hingewiesen worden sei. Die Aufenthaltsbefugnis allein eigne sich deshalb nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts in Deutschland und damit auch nicht als Abgrenzungskriterium bei der Gewährung von Kindergeld. Wegen der weiteren Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der Regelung wird auf die vorgenannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen.

In dem vom Kläger zu § 1 Abs. 3 BKGG in der bis zum 31.12.1995 maßgeblichen Fassung erwirkten Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom .2005 - Individualbeschwerde Nr. - wird unter I. Ziff. 33. der rechtlichen Würdigung ausgeführt, dass der Gerichtshof wie das Bundesverfassungsgericht keine hinreichenden Gründe zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung von Ausländern bei dem Kindergeldbezug in Abhängigkeit davon erkennt, ob sie über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügen oder nicht. Folglich ist Art. 14 i. V. m. Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt worden.

Die vorgenannten höchstrichterlichen Entscheidungen sind auch bei der Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG in der für den Streitzeitraum gültigen Fassung zu beachten, denn auch nach dieser Regelung ist nur eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung ein für den Kindergeldbezug ausreichender Aufenthaltstitel. Die Regelung des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG in der im Streitfall anzuwendenden Fassung ist insoweit wortgleich mit der Regelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG i. d. F. des 1. SKWPG. Durch die Einfügung der Kindergeldregelungen in das EStG mit Wirkung ab 01.01.1996 hat sich an diesem Gesetzeszweck nichts geändert, denn das Kindergeld ist nach wie vor dazu bestimmt, die wirtschaftliche Belastung, die Eltern durch die Sorge für ihre Kinder entsteht, teilweise auszugleichen (vgl. hierzu auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.07.2004 a.a.O.). Eine Neuregelung der vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erkannten Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG i. d. F. des 1. SKWPG ist durch den Gesetzgeber bis heute nicht erfolgt, so dass nach der Entscheidungsformel des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 06.07.2004 für den Kindergeldanspruch nach dem BKGG die bis 31.12.1993 gültige Regelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG anzuwenden ist. Demnach haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, einen Anspruch nach dem BKGG, wenn sie nach den §§ 51, 53 oder 54 des Ausländergesetzes auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenem Aufenthalt von einem Jahr. Weiteren Einschränkungen unterliegt der Kindergeldanspruch von Ausländern nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG damit derzeit nicht. Unter Berücksichtigung des unveränderten identischen Zwecks der Kindergeldgewährung, des Unterbleibens einer gesetzlichen Neuregelung des § 1 Abs. 3 S.1 BKGG in der bis 31.12.1995 gültigen Fassung trotz der durch das Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist sowie unter Beachtung der vorgenannten höchstrichterlichen Entscheidungen ist der Senat in Übereinstimmung mit der vom Niedersächsischen Finanzgericht in seinem Urteil vom 23.01.2006, Az.: 16 K 12/04 (Juris Nr.: STRE200670243) vertretenen Rechtsauffassung ebenfalls der Meinung, dass zum einen § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG in der im Streitfall gültigen Fassung ebenfalls verfassungs- und gemeinschaftsrechtskonform dahingehend einschränkend auszulegen ist, dass nur bei Fehlen der in § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der bis zum 31.12.1993 gültigen Fassung genannten Voraussetzungen Ausländern Kindergeld versagt werden kann und es zum anderen keiner Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht bedarf, weil dieses bereits eine Entscheidung zu einer vergleichbaren Rechtsvorschrift getroffen hat und deshalb das unterinstanzliche Gericht diese Entscheidung in eigener Entscheidungszuständigkeit auf die andere Rechtsnorm übertragen kann. Der vom Niedersächsischen Finanzgericht auf das BFH-Urteil vom 01.06.2004 IX R 35/04 (BStBl. II 2005, 26) gestützten Rechtsauffassung zur Entbehrlichkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist zuzustimmen.

Demnach hat der Kläger für die Monate Januar 1996 bis Januar 1997 Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter A, denn er hatte in diesen Monaten seinen Wohnsitz im Inland und befand sich nicht ohne Aufenthaltsgenehmigung in der BRD. Die Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG ist eine Art der Aufenthaltsgenehmigung (vgl. § 5 AuslG). Für die Monate Februar und März 1997 galt der Aufenthalt des Klägers im Inland nach § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG als erlaubt, sodass eine Ausreisepflicht nicht bestand und damit seine Abschiebung grundsätzlich nicht möglich war.