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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 28.06.2006 - 1 C 4.06 - asyl.net: M8687
https://www.asyl.net/rsdb/M8687
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Straftäter, Gemeinschaftsrecht, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Beurteilungszeitpunkt, Ermessensausweisung, Ermessen, Nachschieben von Gründen, Ausländerbehörde, Nachholung
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 14 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 2; AufenthG § 55
Auszüge:

1. Das angefochtene Berufungsurteil verstößt gegen Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ARB 1/80).

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - (BVerwGE 121, 315) entschieden, dass die in § 47 Abs. 1 und 2 des mit Ablauf des 31. Dezember 2004 außer Kraft getretenen Ausländergesetzes (AuslG) geregelten Tatbestände einer zwingenden Ausweisung und einer Regelausweisung (jetzt: §§ 53, 54 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG) als Rechtsgrundlagen für die Beendigung des Aufenthalts von türkischen Staatsangehörigen ausscheiden, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen. Diese dürfen nur nach § 55 AufenthG (zuvor §§ 45, 46 AuslG) in Verbindung mit den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Andererseits darf nach materiellem Gemeinschaftsrecht eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit - als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit - nur auf ein Verhalten des Betroffenen gestützt werden, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Daraus ergibt sich, dass für die gerichtliche Überprüfung der Ausweisung nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigter türkischer Staatsangehöriger die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (vgl. Urteil vom 3. August 2004 a.a.O. S. 321; ebenso EuGH, Urteil vom 11. November 2004, Rs. C-467/02, Cetinkaya, InfAuslR 2005, 13, Rn. 41 ff.).

Mit dieser Rechtsprechung ist das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts nicht zu vereinbaren. Der Kläger besitzt ein aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Das hat das Berufungsgericht selbst festgestellt. Aufgrund des auf Vorlage des Senats ergangenen Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 16. Februar 2006 (Rs. C-502/04) ist nunmehr geklärt, dass ein türkischer Staatsangehöriger ein aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht nur in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 verliert oder dann, wenn er das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt.

Da der Kläger Deutschland nicht verlassen hat, ist die ergangene Ausweisungsverfügung an den Voraussetzungen des Art. 14 ARB 1/80 zu messen. Die hierfür vom Berufungsgericht zugrunde gelegten Maßstäbe entsprechen nicht der neueren Rechtsprechung des Senats. Danach ist die Ausweisungsverfügung rechtswidrig, da sie nicht auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ergangen ist. Ferner durfte das Berufungsgericht nicht - wie hier - die Gefahr der Begehung erneuter Straftaten auf der Grundlage des Zeitpunktes der letzten behördlichen Entscheidung vom Januar 2000 beurteilen, ohne spätere Entwicklungen bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im August 2002 zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht hätte danach nicht auf den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides als maßgeblich für die Gefahrenprognose abstellen und zugleich offen lassen dürfen, ob vom Kläger zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht (UA S. 8 f.).

Der Senat hält trotz der geäußerten Kritik (vgl. Bader, JuS 2006, 199 ff.) daran fest, dass den Ausländerbehörden infolge der Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den Anforderungen an die gemeinschaftsrechtliche Rechtmäßigkeit von Ausweisungsentscheidungen gegen assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige Gelegenheit zur Ergänzung und auch zur Nachholung ihrer Ermessensentscheidung - einschließlich einer etwaigen Befristung - zu geben ist (vgl. hierzu im Einzelnen Urteil vom 3. August 2004 a.a.O. S. 322). Dies gilt auch für das vorliegende Verwaltungsstreitverfahren, das bereits vor Änderung der Rechtsprechung anhängig war.