VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.06.2006 - A 3 S 258/06 - asyl.net: M8453
https://www.asyl.net/rsdb/M8453
Leitsatz:

§ 14 a Abs. 2 AsylVfG ist auch auf vor dem 1.1.2005 eingereiste oder in Deutschland geborene Kinder anwendbar.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Asylantrag, Antragsfiktion, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Rückwirkung, Altfälle, isolierte Anfechtungsklage, Rechtsschutzbedürfnis, Familienasyl, Familienabschiebungsschutz
Normen: AsylVfG § 14a Abs. 2; AsylVfG § 26 Abs. 2
Auszüge:

§ 14 a Abs. 2 AsylVfG ist auch auf vor dem 1.1.2005 eingereiste oder in Deutschland geborene Kinder anwendbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Der auf Aufhebung des ablehnenden Bescheids des Bundesamtes gerichtete Hauptantrag ist als (isolierte) Anfechtungsklage statthaft. Für die Anfechtungsklage gegen die verfügte Abschiebungsandrohung (Ziff. 4 im Bescheid des Bundesamtes), die einen belastenden Verwaltungsakt darstellt, liegt dies auf der Hand und bedarf keiner näheren Erörterung. Statthaft ist aber auch die (isolierte) Anfechtungsklage gegen die ablehnenden Entscheidungen in Ziff. 1 bis 3 des angefochtenem Bescheids. Der Kläger vertritt insoweit die Auffassung, das Bundesamt sei zu Unrecht von der Fiktion eines Asylantrags nach § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG ausgegangen. Damit macht er der Sache nach geltend, es fehle schon an der Sachentscheidungsvoraussetzung des Antrags. Daher habe ein Bescheid - gleich welchen Inhalts - nicht ergehen dürfen. Für dieses Vorbringen, das die Rechtswidrigkeit der Antragsablehnung in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht beinhaltet, ist die isolierte Anfechtungsklage die einzig taugliche Klageart (so im Ergebnis auch OVG Niedersachsen, Urteil vom 15.03.2006 - 10 LB 7/06 -).

Vorliegend ist das Rechtsschutzinteresse aber jedenfalls deswegen zu bejahen, weil es mit der bloßen Antragsablehnung nicht sein Bewenden hat. Denn beließe es der Kläger bei der negativen Entscheidung des Bundesamtes, könnte er einen weiteren Antrag nur unter den (erschwerten) Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG stellen. Zudem wäre die Entscheidung über die Antragsablehnung und - damit einher gehend - über die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, für die Dauer der Wirksamkeit der entsprechenden Verfügungen nach Maßgabe der §§ 4 Satz 1, 42 Satz 1 AsylVfG zu seinen Lasten verbindlich. In derartigen Fällen der nachteiligen materiell-rechtlichen Wirkung der Antragsablehnung ist von der Zulässigkeit (auch) der isolierten Anfechtungsklage auszugehen (s. im Einzelnen Kopp/Schenke, a.a.O.; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 18.03.1983 - 25 B 6285/79 -, BayVBl. 1984, 18 <20>).

2. Die somit insgesamt zulässige Anfechtungsklage ist unbegründet, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Vorschrift des § 14 a Abs. 2 AsylVfG ist - mit Verfassungsrecht im Einklang stehend - auf den Kläger anwendbar, sodass es nicht an einem Asylantrag als Voraussetzung eines Asylverfahrens fehlt.

§ 14 a Abs. 2 AsylVfG erfasst in Ermangelung einer ausdrücklichen Übergangsvorschrift neben all den Kindern, die nach dem 01.01.2005 im Bundesgebiet geboren worden oder dorthin eingereist sind, auch vor dem 01.01.2005 im Bundesgebiet geborene Kinder (sog. "Altfälle"), deren Geburt nach Inkrafttreten des § 14 a Abs. 2 AsylVfG angezeigt wurde.

a) § 14 a AsylVfG ist am 01.01.2005 in Kraft getreten und ist seither geltendes Recht.

Aus einer Gesamtbetrachtung der Übergangsvorschriften des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30.07.2004 ergibt sich, dass der Gesetzgeber diejenigen Sachverhalte, die nicht den (geänderten) Regelungen des Zuwanderungsgesetzes unterfallen sollten, ausdrücklich benannt hat.

b) Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes ist festzustellen, dass die grammatische Auslegung des § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG Fälle der vorliegenden Art nicht von ihrem Anwendungsbereich ausschließt.

c) Auch die systematische und die teleologische Auslegung schließen nicht aus, dass § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG auf "Altfälle" wie den hiesigen Anwendung findet. Die Einführung der genannten Norm steht in einem engen systematischen Zusammenhang mit der Änderung des § 26 Abs. 2 AsylVfG. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/420 S. 109) bemerkt hierzu, dass hierdurch bei den Kindern, die vor Vollendung des 16. Lebensjahres ins Bundesgebiet eingereist sind, keine inhaltliche Änderung entstehe, da insoweit die Fiktionswirkung des § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG greife. 16- bis 18-jährige ledige Kinder könnten künftig bis kurz vor Vollendung des 13. Lebensjahres mit der Asylantragstellung warten. Ob diese Erwägungen der Bundesregierung inhaltlich in jeder Hinsicht zutreffen, erscheint zwar fraglich. Denn die Anzeigepflicht nach § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG knüpft nicht nur an die Geburt oder die Einreise in das Bundesgebiet, sondern zusätzlich an einen ganz bestimmten Aufenthaltsstatus an, der demjenigen des Stammberechtigten, der Familienasyl oder Familienabschiebungsschutz nach § 26 AsylVfG allein zu vermitteln in der Lage ist, regelmäßig nicht entsprechen wird. Soweit nämlich Asylberechtigte - wie regelmäßig - über einen Aufenthaltstitel gemäß §§ 25 Abs. 1, 26 Abs. 3 AufenthG verfügen werden, ist die Einreise ihrer unter 16 Jahre alten Kinder nicht anzeigepflichtig im Sinne des § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG. Insoweit dürfte das von der Bundesregierung angenommene Zusammenspiel der §§ 14 a Abs. 2 und 26 Abs. 2 AsylVfG daher fraglich sein (anders aber OVG Niedersachsen, Urteil vom 15.03.2006, a.a.O.). Dessen ungeachtet hat der Gesetzgeber jedenfalls eine systematische Verknüpfung beider Vorschriften hergestellt und geht - wenn auch möglicherweise teilweise unzutreffend - davon aus, dass § 14 a Abs. 2 AsylVfG hinsichtlich der Einreise von unter 16 Jahre alten Kindern Asylberechtigter an die Stelle der bisherigen Regelung des § 26 Abs. 2 AsylVfG getreten ist.

Für die Anwendbarkeit der Vorschrift auch auf Altfälle spricht außer den vorstehenden Gründen vor allem auch eine an Sinn und Zweck orientierte Auslegung des § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG.

d) Ergibt sich nach Vorstehendem unter Berücksichtigung der gängigen Auslegungsstopp, dass Fälle der vorliegenden Art nicht vom Anwendungsbereich des § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG ausgeschlossen sind, stellt sich die Frage, ob die Anwendung des § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG auf den Kläger auch mit Verfassungsrecht im Einklang steht. Dies ist der Fall. Namentlich ist darin keine echte Rückwirkung der Norm zu erblicken.