OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.04.2006 - 9 A 3590/05.A - asyl.net: M8226
https://www.asyl.net/rsdb/M8226
Leitsatz:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage im Irak i.S.d. verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 AufenthG; außerdem gleichwertiger Abschiebungsschutz durch Erlasslage.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Terrorismus, Sunniten, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine extreme allgemeine Gefahrenlage im Irak i.S.d. verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 AufenthG; außerdem gleichwertiger Abschiebungsschutz durch Erlasslage.

(Leitsatz der Redaktion)

 

I. Die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes ist rechtmäßig.

1. Das Aufhebungsbegehren des Klägers ist mangels einschlägiger Übergangsregelung nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage zu beurteilen. Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung des Bundesamtes ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.

4. Die Widerrufsentscheidung erweist sich auch in der Sache als rechtmäßig.

§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entspricht inhaltlich der sog. "Beendigungs-" bzw. "Wegfall-der-Umstände-Klausel" in Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK, die sich ebenfalls ausschließlich auf den Schutz vor erneuter Verfolgung bezieht. Unter "Schutz" ist nach Wortlaut und Zusammenhang der "Beendigungsklausel" ausschließlich der Schutz vor erneuter Verfolgung zu verstehen. Der Begriff "Schutz des Landes" in dieser Bestimmung hat keine andere Bedeutung als "Schutz dieses Landes" in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft bestimmt. Schutz ist dabei bezogen auf die Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Überzeugung.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vor.

Das bisherige Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak durch die am 20. März 2003 begonnene Militäraktion unter Führung der USA endgültig verloren (vgl. Auswärtiges Amt (AA), ad-hoc-Information zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak vom 30. April 2003, sowie ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 7. Mai 2004 (Stand: April 2004)).

Eine Rückkehr des alten Regimes ist nach den aktuellen Machtverhältnissen ebenso ausgeschlossen wie die Bildung einer Struktur, die eine vom früheren Regime gesehene Gegnerschaft als solche übernimmt und erneut (wiederholend) verfolgt.

b) Dem Kläger droht auch nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -).

Eine Verfolgung durch den irakischen Staat droht dem Kläger weder im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch in der für die anzustellende Gefährdungsprognose in den Blick zu nehmenden absehbaren Zukunft.

Dass dem Kläger nichtstaatliche Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben b) und c) AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG droht, ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich.

Das gilt unabhängig davon, ob man als nichtstaatliche Akteure Aufständische, Terroristen, Angehörige ethnischer oder religiöser Gruppen oder aber kurdische Milizionäre im Nordirak in den Blick nehmen wollte. Soweit es nach wie vor insbesondere zu terroristischen Anschlägen und fortgesetzten offenen Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition im Irak sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften kommt, ist nicht erkennbar, dass derartiges Geschehen - bezogen auf den Kläger - an asylrechtserhebliche Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anknüpfte (vgl. AA, Lagebericht; SFH, Länderanalyse vom 27. Januar 2006).

Auch mit Blick auf die von ihm angegebene Zugehörigkeit zu den arabischen Sunniten ist derzeit und auf absehbare Zukunft eine Verfolgung des Klägers im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nicht anzunehmen.

Vor dem Hintergrund vorstehender Ausführungen ist insbesondere nicht der Auffassung des Klägers zu folgen, seine Schutzbedürftigkeit sei nicht erloschen, weil es an einer grundlegenden und dauerhaften Situationsänderung und der Herstellung von Strukturen fehle, die betroffenen Flüchtlingen wirksamen Schutz böten (vgl. in diesem Zusammenhang Nds. OVG, Beschluss vom 1. März 2005 - 9 LA 46/05 - Nds.Rpfl. 2005, 257, zitiert nach juris).

Entgegen der Auffassung des Klägers begegnet die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes auch nicht mit Blick auf die Richtlinie 2004/83 EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) rechtlichen Bedenken. Diese Richtlinie ist erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist, das ist der 10. Oktober 2006 (vgl. Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie), anwendbar. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist entfaltet sie keine unmittelbare Wirkung. Ein Einzelner kann sich vor den nationalen Gerichten auf eine Richtlinie im Übrigen erst nach Ablauf der für ihre Umsetzung in das nationale Recht vorgesehenen Frist berufen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A - m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 ).

Etwas anderes ergibt sich nicht, wenn man annimmt, mitgliedstaatliche Gerichte seien schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist berechtigt, sich bei der Auslegung nationalen Rechts an den Bestimmungen einer Richtlinie zu orientieren. § 60 Abs. 1 AufenthG wäre unter Beachtung der Qualifikationsrichtlinie in seinem Kerngehalt nicht anders auszulegen als der bisherige § 51 Abs. 1 AuslG (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2005, - 11 A 533/05.A -, mit näherer Begründung).

§ 73 Abs. 2 a AsylVfG, der am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, begründet keine Rechtswidrigkeit der aus dem Jahre 2004 stammenden Widerrufsentscheidung des Bundesamtes.

II. Der Kläger besitzt darüber hinaus keinen - als hilfsweise geltend gemacht anzusehenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2002 - 1 C 17.01 -, BVerwGE 116, 326) Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von sonstigen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG).

Dem Kläger drohen bei einer Rückkehr in seine Heimat auch nicht landesweit Gefahren, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen könnten.

Gemessen hieran scheidet die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall des Klägers aus. Nach dem Ende des 3. Golfkrieges und der im Anschluss daran im Aufbau befindlichen politischen Neuordnung kann eine individuelle, konkret auf den Kläger zielende Bedrohung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Weder die weiterhin angespannte Sicherheitslage, die durch andauernde kriegerische Auseinandersetzungen und tägliche Terroranschläge gekennzeichnet ist, noch Versorgungsengpässe - sei es bei der noch immer durchgeführten Verteilung von Nahrungsmitteln durch das irakische Handelsministerium, sei es wegen schlechter Stromversorgung, kritischer Wasserversorgung oder mit Blick auf die angespannte medizinische Versorgungslage -, begründen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. hierzu AA, Lagebericht; UNHCR, Gutachten vom 28. Januar 2005 zur humanitären Lage und Gesundheitsversorgung; vgl. auch "Tote im Irak am Jahrestag der Invasion", de.news.yahoo.com 20032006/3/tote-irak-jahrestag-invasion.html; "Aufständische töten vier Wachmänner südlich von C., de.news.yahoo.com/20032006/3/aufstaendische-töten-wachmänner-suedlich-...; "Milizen und Armee schützen Hunderttausende Pilger im Irak", de.news.yahoo.com/19032006/3/milizen-armee-schuetzen-hunderttausende-pilger...; "Starke Explosion in Kerbela", de.news.yahoo.com/19032006/286/starke-explosion-kerbela.html).

Die damit im Zusammenhang stehenden Gefahren betreffen die Bevölkerung des Iraks in ihrer Gesamtheit. Sie können demgemäß grundsätzlich nur bei einer Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt werden (vgl. die sog. Sperrklausel des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG).

Eine etwaige verfassungskonforme Auslegung (vgl. die Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG) des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigt keine abweichende Beurteilung.

Obwohl nach der aktuellen Erkenntnislage in Teilen des Iraks die Sicherheitslage nach die vor sehr instabil ist und auch die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrung, Trinkwasser und Strom regional zeitweise unzureichend funktioniert (vgl. AA Lagebericht; SFH, Länderanalyse vom 27. Januar 2006), ist nicht davon auszugehen, dass Rückkehrer in den Irak gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würden.

Dass der Kläger auf Grund von Problemen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Lage bei einer Rückkehr konkreten, hochgradigen Existenzgefährdungen ausgesetzt wäre, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die Versorgungslage wird nach wie vor als angespannt bezeichnet. Wie dargestellt, führt das irakische Handelsministerium indes noch immer die Verteilung von Nahrungsmitteln durch (vgl. AA, Lagebericht).

Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen scheidet die Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch wegen eines bestehenden anderweitigen Schutzes vor Abschiebung aus. Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach irakischen Staatsangehörigen auch deswegen kein Schutz vor Abschiebung in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gewährt werden kann, weil dieser Personenkreis wegen der weiterhin bestehenden nordrhein-westfälischen Erlasslage in einer den Anforderungen des § 60 a Abs. 1 AufenthG entsprechenden Weise vor Abschiebung geschützt ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2004 - 9 A 3288/02.A - m.w.N.; zur sächsischen Erlasslage Sächs. OVG, Beschluss vom 30. März 2005 - A 4 B 9/05 -, AuAS 2005, 149; vgl. zu etwaigen Rückführungen in den Irak auch Pressemitteilung Nr. 2/2006 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 26. Januar 2006, www.stmi.bayern.de/ministerium/imk/presse/15745).