OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 14.12.2005 - 3 Bs 79/05 - asyl.net: M8155
https://www.asyl.net/rsdb/M8155
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Unionsbürger, Freizügigkeit, Sperrwirkung, Zuwanderungsgesetz, Beurteilungszeitpunkt, Befristung, Rücknahme, Arbeitslosigkeit, Haft, Straftaten, Freigänger, Dienstleistungsempfänger, Ermessen, Ermessensausweisung, Ermessensreduzierung auf Null, Widerruf, Ist-Ausweisung, zwingende Ausweisung, Altfälle
Normen: AuslG § 8 Abs. 2; AufenthG § 102 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 11 Abs. 1; FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 2; VwVfG § 48 Abs. 1; AufenthG/EWG § 3; EGV Art. 39; FreizügG § 6; VwVfG § 49 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Ein dem Antragsteller zustehender Anordnungsanspruch des Inhalts, dass die Antragsgegnerin - zumindest einstweilen - von seiner Abschiebung absieht, ist nicht glaubhaft (§ 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 123 Abs. 3 VwGO).

Ein derartiger Anspruch käme in Betracht, wenn die bestandskräftige, wegen schwerer Straftaten erlassene Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 und die ebenfalls bestandskräftige, auf die Ausweisungsverfügung gestützte Abschiebungsanordnung vom 14. Juni 2004 am 1. Januar 2005 mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) wirkungslos geworden wären. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Sperrwirkungen (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 AuslG) einer nach dem Ausländergesetz wegen schwerer Straftaten verfügten und bestandskräftig gewordenen Ausweisung gelten vielmehr gem. § 102 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG selbst gegenüber freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern fort; dem steht nicht entgegen, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU keine dem § 102 AufenthG entsprechende Übergangsregelung enthält (siehe im Einzelnen OVG Hamburg, Urt. v. 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -, Leitsätze in ZAR 2005 S. 251; vgl. auch Groß, ZAR 2005 S. 81, 86). Allerdings liegt es bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern nahe, zusätzlich zu § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG die Vorschrift des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, wonach die Sperrwirkung befristet wird, analog anzuwenden.

1. Gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 (i.V.m. § 51 Abs. 5) HmbVwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Dies setzt voraus, dass die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 in dem für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig war (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.12.1999, BVerwGE Bd. 110 S. 140, 143). Maßgeblicher Zeitpunkt ist hier, da die Ausweisungsverfügung unanfechtbar ist, der Zeitpunkt des Eintritts ihrer Unanfechtbarkeit (vgl. EGMR, Urt. v. 31.10.2002, InfAuslR 2003 S. 126, 127, im Zusammenhang mit BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 315, 323 f.). Dass bei einer Anfechtungsklage gegen eine gegenüber einem Freizügigkeitsberechtigten ergangene Ausweisungsverfügung auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der letzten Tatsacheninstanz abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 297), führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn wenn die betreffende Ausweisungsverfügung - wie hier - nicht angefochten worden ist, ist auf den letztmöglichen Zeitpunkt, nämlich den des Eintritts ihrer Unanfechtbarkeit abzustellen. Da die Ausweisungsverfügung am 15. Mai 2003 zugestellt worden ist, ist ihre Rechtmäßigkeit nach der im Juni 2003 gegebenen Sach- und Rechtslage zu beurteilen.

a) Rechtswidrig ist die Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 dann, wenn der Antragsteller im Juni 2003 freizügigkeitsberechtigt war. Dies ist aber nicht überwiegend wahrscheinlich.

aa) Was die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV; § 3 AufenthG/EWG) betrifft, so kann zunächst auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Auch wenn davon auszugehen sein sollte, dass längere Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgrund freiwilliger Aufgabe eines bestehenden Arbeitsverhältnisses die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht stets beenden (siehe aber Art. 7 der Richtlinie Nr. 68/360; Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des am 31.12.2004 außer Kraft getretenen AufenthG/EWG; Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG), so setzt die Aufrechterhaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit immerhin voraus, dass der betreffende Arbeitslose auch tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden (vgl. EuGH, Urt. v. 7.7.2005, InfAuslR 2005 S. 350, 352 Rdnr. 19; EuGH, Urt. v. 23.1.1997, EuGHE 1997 1 S. 329, 353 Rdnr. 41; Grabitz/Hilf, a.a.O., Art. 39 EGV Rdnr. 45). Dass der Antragsteller im Juni 2003 tatsächlich Arbeit gesucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden hat, ist weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht die Tätigkeiten, die der Antragsteller innerhalb der Haftanstalten verrichtet hat, zu Recht nicht als arbeitnehmerfreizügigkeitsbegründend angesehen hat (vgl. in diesem Zusammenhang EuGH, Urt. v. 7.7.2005, InfAuslR 2005 S. 350, 352 Rdnr. 21).

b) Aber selbst wenn dem Antragsteller der Nachweis gelingen sollte, dass er im Juni 2003 freizügigkeitsberechtigt war, ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass er gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 (i.V.m. § 51 Abs. 5) HmbVwVfG die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 beanspruchen kann.

Wenn der Antragsteller freizügigkeitsberechtigt war, war die Ausweisungsverfügung aufgrund der vom Antragsteller und vom Verwaltungsgericht genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (siehe Urt, v. 3.8.2004, BVerwGE Bd. 121 S. 297) im maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig, weil die Ausweisung nicht im Wege einer Ermessensentscheidung verfügt worden ist. Der Antragsteller hat dann einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG eine Ermessensentscheidung über die Frage der Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 trifft. Dass die Antragsgegnerin zu einer derartigen Ermessensentscheidung verpflichtet ist, begründet für sich genommen noch kein Abschiebungshindernis. Vielmehr liegt nur dann ein Abschiebungshindernis vor, wenn das der Antragsgegnerin gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG eingeräumte Ermessen derart reduziert ist, dass sie die bestandskräftige Ausweisungsverfügung zurücknehmen muss. Dies ist jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich.

Die Antragsgegnerin dürfte im Falle des Nachweises der Freizügigkeit nach dem in Art. 10 EGV verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet sein (insoweit Ermessensreduzierung auf Null), die bestandskräftige Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG zu überprüfen und der Entscheidung des BVerwG vom 3. August 2004 (BVerwGE Bd. 121 S. 297) und damit letztlich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 (EuGHE 2004 1 S. 5257) Rechnung zu tragen (vgl. das vom Antragsteller und dem Verwaltungsgericht herangezogene Urteil des EuGH v. 13.1.2004, EuGHE 2004 1 S. 837). Diese Pflicht zur Überprüfung bedeutet aber nicht, dass die Antragsgegnerin die Ausweisungsverfügung aufheben müsste. Vielmehr braucht sich die gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG erforderliche Prüfung nur darauf zu erstrecken, ob die Antragsgegnerin die Ausweisung seinerzeit auch dann verfügt hätte, wenn ihr bekannt gewesen wäre, dass über die Frage der Ausweisung eine Ermessensentscheidung zu treffen sei (vgl. zur Zulässigkeit derartiger hypothetischer Überlegungen im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG: VGH Mannheim, Urt. v. 13.6.2000, VBlBW 2001 S. 23).

2. Der Antragsteller kann nicht beanspruchen, dass die bestandskräftige Ausweisungsverfügung vom 12. Mai 2003 gem. § 49 Abs. 1 HmbVwVfG widerrufen wird.

Denn der Widerruf einer Ausweisungsverfügung (§ 49 Abs. 1 HmbVwVfG) ist durch die - die Befristung der Ausweisungswirkungen regelnde - Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 i.V.m. Satz 1 und 2 AufenthG (bzw. des § 7 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 FreizügG/EU) als einer bundesrechtlichen Spezialvorschrift insoweit ausgeschlossen, als es um die Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind (vgl. das zu § 8 Abs. 2 Satz 3 und 4 AuslG ergangene Urteil des BVerwG v. 7.12.1999 - BVerwGE Bd. 110 S. 140, 147 -, das auf § 11 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG bzw. § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU übertragen werden kann). Eine derartige Sachverhaltsänderung liegt auch vor, wenn ein bisher nicht freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit einer nach altem Recht erlassenen Ausweisungsverfügung nunmehr die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht erfüllt (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -).

3. Dieser letztere Gesichtspunkt, nämlich der Vorrang des Befristungsverfahrens, steht auch der Anwendbarkeit des § 51 Abs. 1 Nr. 1 HmbVwVfG unter dem Gesichtspunkt einer nachträglichen Änderung der Sachlage von vornherein entgegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.12.1999, BVerwGE Bd. 110 S. 140, 148). Dass keine nachträgliche Änderung der Rechtslage vorliegt, ist bereits oben dargelegt worden.