VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 31.01.2006 - 2 A 227/05 - asyl.net: M8119
https://www.asyl.net/rsdb/M8119
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, geschlechtsspezifische Verfolgung, alleinstehende Frauen, Bekleidungsvorschriften, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Existenzminimum, Übergriffe, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

Der Bescheid der Beklagten vom 17.05.2005 ist rechtswidrig. Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für einen Widerruf der Rechtsstellung der Klägerin aus § 51 Abs. 1 AuslG, wie sie mit Bescheid der Beklagten vom 15.07.1997 begründet worden ist, sind nicht erfüllt.

Der Klägerin droht bei einer Ausreise in den Irak allerdings nicht mehr politische Verfolgung aus den Gründen, die für die Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG mit Bescheid des Bundesamtes vom 15.07.1997 tragend waren.

Diese Feststellung führt indessen noch nicht dazu, dass das Bundesamt den streitbefangenen Widerruf rechtmäßig verfügen durfte. Denn der Widerruf setzt weiter voraus, dass auch nicht aus anderen Gründen, als denjenigen, die zur Asylanerkennung geführt haben, die Gefahr politischer Verfolgung besteht (Nds. OVG, Beschluss v. 27.12.2004 - 8 LA 245/04 -). Gründe, die keine Verknüpfung zu dem Verfolgungsgeschehen der Vergangenheit aufweisen, das zu der Rechtsgewährung geführt hat, stehen einem Widerruf allerdings nur dann entgegen, wenn der Betroffenen deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG droht.

Das Gericht ist nach Auswertung der insoweit vorliegenden Erkenntnismittel (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.06.2005; "Mord im Namen der Ehre", Entwicklung und Hintergründe von Ehrenmorden - eine in Kurdistan verbreitete Form der Gewalt gegen Frauen, Hrsg.: Internationales Zentrum für Menschenrechte der Kurden - MK e.V. -; UNHCR: Situation von Frauen im Irak, April 2005) davon überzeugt, dass die Klägerin im Irak wegen ihrer Lebensweise geschlechtsspezifische Verfolgung landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte.

Die Klägerin ist - wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung nachhaltig einen persönlichen Eindruck verschafft hat - in nahezu allen Belangen des Lebens "westlich" orientiert. Sie ist nicht religiös, nimmt an keinen Gottesdiensten teil, betet nicht und lehnt - seit Jahrzehnten - ein Leben nach islamisch geprägten traditionellen Sitten und Gebräuchen strikt ab. Die Situation einer alleinstehenden Frau im Irak, die sich den dort herrschenden Moral- und Lebensvorstellungen nicht anpassen will, und überdies als promovierte Akademikerin von der Ausbildung und den Fähigkeiten den meisten Männern im muslimisch geprägten Irak fachlich überlegen ist, stellt sich mehr als prekär (vgl. UNHCR. a.a.O., insbesondere dort Ziffer 4.) dar. Alleinstehende Frauen haben zunehmend unter gewalttätigen Repressionen zu leiden. Ohne Schutz eines Mannes oder der eigenen Familie ist unter Berücksichtigung der ohnehin schlechten Sicherheitsbedingungen innerhalb kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen zu rechnen. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen, die ohnehin in der orientalischen Tradition wurzelt und im Nachkriegsirak auf einen fruchtbaren Nährboden gefallen ist, hat durch die religiös-extremistischen muslimischen Bestrebungen eine neue Dimension bekommen. Diese Verschlechterung der Situation bekommen Frauen, die sich schon äußerlich, also nach Kleidung und Gebräuchen, nicht den Landesgewohnheiten anpassen, ganz besonders zu spüren (vgl. Lagebericht, a.a.O., dort Ziffer 6 a. E.). Eine Frau, die sich außerhalb christlicher Viertel in Bagdad oder Mosul unverschleiert in die Öffentlichkeit begibt und dort agiert, wird nach Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit Opfer eines Angriffs (UNHCR, a.a.O.). Von staatlicher Seite hätte die Klägerin bei der Abwehr derartiger Übergriffe zur Zeit keinerlei Unterstützung zu erwarten (vg. Lagebericht, a.a.O.).

Außerdem führt die hohe Arbeitslosigkeit im Irak dazu, dass eine alleinstehende Frau, die zudem wie die Klägerin seit Jahren nicht mehr im Ausbildungsberuf gearbeitet hat, so gut wie keine Aussicht hat, ein eigenes Einkommen erwirtschaften zu können (vgl. Lagebericht, a.a.O., Ziffer 3). Hinzu kommt schließlich, dass die Klägerin seit fast 10 Jahren in Deutschland lebt und hier in die bundesdeutsche Gesellschaft voll eingegliedert ist. Sie spricht gut Deutsch, kleidet sich nach hiesigen Vorstellungen und hat insgesamt einen westlichen Lebensstil angenommen. Nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters hätte sie angesichts der geschilderten Situation im Irak, insbesondere der für die westlich orientierte weibliche Bevölkerung vorherrschenden, keine Chance, dort menschenwürdig zu leben bzw. sicher zu überleben. Es ist vielmehr konkret wahrscheinlich, dass sie innerhalb kürzester Zeit mit tätlichen Übergriffen rechnen müsste. Sie hat zudem glaubhaft gemacht, im Irak niemanden zu haben, bei dem sie wohnen und der ihr Schutz gewährleisten könnte, so dass in der Gesamtschau dieses Falles für die Klägerin eine Ausreise in den Irak derzeit unzumutbar ist.