OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.03.2006 - OVG 8 S 123.05 - asyl.net: M8003
https://www.asyl.net/rsdb/M8003
Leitsatz:

Eine vor dem 1.1.2005 erfolgte Ausweisung eines Unionsbürgers wirkt nicht als Feststellung, dass kein Einreise- und Aufenthaltsrecht besteht, gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU fort; sie entfaltet seit dem 1.1.2005 keine Sperrwirkung mehr.

 

Schlagwörter: Ausweisung, Freizügigkeit, Unionsbürger, Verlust des Aufenthaltsrechts, Freizügigkeitsgesetz/EU, Sperrwirkung, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Ausreisepflicht, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: FreizügG/EU § 1; FreizügG/EU § 2; FreizügG § 5 Abs. 2; FreizügG/EU § 7; FreizügG/EU § 6 Abs. 2; FreizügG/EU § 11 Abs. 2; AufenthG § 102 Abs. 1
Auszüge:

Eine vor dem 1.1.2005 erfolgte Ausweisung eines Unionsbürgers wirkt nicht als Feststellung, dass kein Einreise- und Aufenthaltsrecht besteht, gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU fort; sie entfaltet seit dem 1.1.2005 keine Sperrwirkung mehr.

(Leitsatz der Redaktion)

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet, denn der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus §§ 1, 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 Freizügigkeitsgesetz/EU vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S.1950). Danach steht jedem Unionsbürger zunächst unabhängig davon, ob er die materiellrechtlichen Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung (§§ 2 Abs. 2 und 4 Satz 1 FreizügG/EU für nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen) erfüllt, das Recht zur Einreise und zum Aufenthalt zu.

Eine Feststellung des Antragsgegners über das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für den Antragsteller liegt hier nicht vor. Der Antragsteller ist demnach noch nicht ausreisepflichtig, so dass er einstweilen nicht abgeschoben werden darf. Nach § 7 Abs. 1 Sätze 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger nämlich erst ausreisepflichtig, wenn die Feststellung, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, unanfechtbar ist.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners darf der Antragsteller derzeit auch nicht aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung vom 11. November 2003 erneut abgeschoben werden. Bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung geht der Senat davon aus, dass die auf der Grundlage des Ausländergesetzes ergangene Ausweisung und die frühere Abschiebung nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU keine dem § 8 Abs. 2 Satz 1 AuslG entsprechende Wirkungen mehr entfalten.

§ 102 Abs. 1 AufenthG, wonach die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen, darunter auch Ausweisungen und Abschiebungen, einschließlich ihrer Folgen wirksam bleiben, ist hier nicht anwendbar, da die Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (noch) nicht festgestellt hat (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Eine dem § 102 Abs. 1 AufenthG entsprechende Regelung enthält das Freizügigkeitsgesetz nicht. Dies legt im Wege eines Umkehrschlusses die Annahme nahe, dass die auf der Grundlage des Ausländergesetzes und des bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Aufenthaltsgesetzes/EWG gegenüber einem Unionsbürger ausgesprochene Ausweisung und eine frühere Abschiebung ab dem 1. Januar 2005 keine Wirkungen mehr entfalten (so schon im Ergebnis Senatsbeschl. v. 18. Oktober 2005 - OVG 8 S 39.05 - ;vgl. auch HessVGH, Beschl. vom 29. Dezember 2004 - 12 TG 3212/04 - InfAuslR 2005, 130, der davon spricht, die Ausweisungsverfügung habe "ihre Rechtsgrundlage verloren"; wie hier Gutmann, InfAuslR 2005, 125/126). Die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätze zur Bestandskraft von Verwaltungsakten hindern den Gesetzgeber nicht, deren Wirkungen zeitlich zu beschränken. Das ist hier geschehen, indem in § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die in § 102 Abs. 1 AufenthG enthaltene und für erforderlich gehaltene Regelung zur Fortgeltung ausländerrechtlicher Maßnahmen, darunter Ausweisungen und Abschiebungen, für Unionsbürger nicht für entsprechend anwendbar erklärt wurde. Dass der Gesetzgeber für das Aufenthaltsgesetz nicht aber für das Freizügigkeitsgesetz/EU eine solche Fortgeltungsregelung für erforderlich gehalten hat, lässt nicht den Schluss zu, es habe ihrer im Hinblick auf die allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätze zur Bestandskraft nicht bedurft. Denn Gleiches müsste dann für § 102 Abs. 1 AufenthG gelten. Dass der Gesetzgeber dort aber eine überflüssige Regelung treffen wollte, kann nicht angenommen werden.

Die Ausweisung des Antragstellers nach altem Recht kann auch nicht als Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU anerkannt werden (so aber Lüdke, InfAuslR 2005, 177 [178]). Den vom Antragsgegner in diesem Kontext im Falle der Nichtfortgeltung der Wirkungen einer altrechtlichen, unter Beachtung des § 12 AufenthG/EWG im Anschluss an das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. März 2005 (- 3 Bf 294/04 - zitiert nach Juris, S. 15 ff.) konstatierten Wertungswiderspruch zwischen § 12 AufenthG/EWG und § 6 FreizügG/EU gibt es nicht. Denn der Gesetzgeber wollte mit dem Freizügigkeitsgesetz eine Gesamtrevision des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger in Deutschland durchführen (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes, BT-Drs. 15/420 S. 101).