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Zitieren als:
, Bescheid vom 04.04.2005 - 5086803-438 - asyl.net: M7775
https://www.asyl.net/rsdb/M7775
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, geschlechtsspezifische Verfolgung, häusliche Gewalt, Ehrenmord, Flüchtlingsbegriff
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Dem Antrag wird entsprochen, soweit die Feststellung begehrt wurde, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Voraussetzung für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 1 AufenthG ist zunächst die Prüfung, ob eine politische Verfolgung vorliegt. Insoweit entspricht die Regelung des 60 Abs. 1 AufenthG den Anerkennungsvoraussetzungen nach Art. 16 a Abs. 1 GG.

Der Schutzbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG ist jedoch weiter gefasst. So können die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot auch dann erfüllt sein, wenn ein Asylanspruch aus Art.16 a Abs. 1 GG trotz drohender politischer Verfolgung - etwa wegen der Einreise über einen sicheren Drittstaat (§ 26 a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG) oder anderweitige Sicherheit vor Verfolgung (§ 27 Abs. 1 AsylVfG) ausscheidet.

Daneben geht auch die Regelung über die Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" (§ 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG) über den Schutzbereich des Art. 16 a GG hinaus, der eine zumindest mittelbare staatliche oder quasistaatliche Verfolgung voraussetzt.

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung kann gem. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (staatsähnliche Akteure), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern staatliche oder staatsähnliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der landesweit drohenden Verfolgung zu bieten. Dies gilt unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Auf Grund des von ihr geschilderten Sachverhaltes und der hier vorliegenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die Ausländerin im Falle einer Rückkehr in den Irak zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen i. S. von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt sein würde.

Maßgeblich für die unter dem Gesichtspunkt des § 60 Abs. 1 AufenthG günstigere Beurteilung des Antragsvorbringens ist die mit § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG erstmals im deutschen Flüchtlingsrecht ausdrücklich kodifizierte Regelung zur der Frage, ob die Urheberschaft der Verfolgung bestimmend sein soll für das Ob bzw. Wie einer Schutzgewährung. Entscheidend für den Verfolgungsbegriff i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG ist nämlich nach neuem Recht nicht mehr, von wem die Verfolgung ausgeht, sondern vielmehr, ob wirksamer Schutz vor dieser Vorverfolgung für den Betroffenen erreichbar ist. Damit sind die früher für das deutsche Flüchtlingsrecht maßgeblichen Fragen danach, ob im Heimatland ein Staat, der als Verfolger aufzutreten in der Lage ist, überhaupt besteht und falls ja, ob ihm etwaiges Dritthandeln wie eigenes Handeln zurechenbar ist (Frage der Schutzbereitschaft) und er damit quasi für Fremdhandeln haftbar gemacht werden kann, unerheblich geworden.

Stattdessen kommt es nach jetzt geltendem Recht allein darauf an, ob der Asylsuchende in seinem Heimatland faktisch effektiven Schutz vor der besorgten Verfolgung erlangen kann. Der Gesetzgeber ist mit dieser Regelung einer seit längerem im Schrifttum wie im (rechts)politischen Bereich an ihn herangetragenen Forderung nach einer Festlegung auf die sog. Schutzlehre (in Abgrenzung von der sog. Zurechnungslehre; die die Grundsatzrechtsprechung favorisiert hatte) nachgekommen (vg1. Marx, a.a.O.) und hat das deutsche Flüchtlingsrecht damit an die international übliche Auslegungspraxis der Genfer Flüchtlingskonvention angepasst.

Im Falle der Antragstellerin ist zur Frage der Schutzmöglichkeiten festzustellen, dass in Anbetracht der angespannten Sicherheitslage, die wegen der ständigen Terrorismusbedrohung jede Aufmerksamkeit aller offiziellen Stellen im Irak fordert und einen Großteil der Personal und Sachmittel, sowohl der irakischen als euch der amerikanischen Sicherheitskräfte bindet, nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon auszugehen ist, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr Schutz vor den Drohungen ihres Vaters erlangen würde. In Anbetracht der Tatsache, dass eine Rückkehr ihr Leben bedrohte, ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerwG zudem zu fordern, dass wegen des hohen Schutzgutes Leben ebenso hohe Anforderungen an die Sicherheitsgewähr zu stellen sind. In Anbetracht der aktuellen Lage im Irak kann jedoch nicht eindeutig festgestellt werden, dass die Antragstellerin in ihrer Heimat tatsächlich den benötigten Schutz fände.

Da die besorgten Maßnahmen zudem an ihrem Geschlecht anknüpfen, § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG, stellt sich das Verfolgungsschicksal der Antragstellerin insgesamt als politisch i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG dar.