SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Beschluss vom 10.11.2005 - S 44 AY 35/05 - asyl.net: M7759
https://www.asyl.net/rsdb/M7759
Leitsatz:

Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG sind nicht ausgeschlossen, wenn zwar in der Vergangenheit rechtsmissbräuchliches Verhalten vorlag, dieses aber nicht mehr aktuell fortwirkt; allein die Weigerung, freiwillig auszureisen, stellt kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar; Roma aus dem Kosovo ist die freiwillige Ausreise nicht zuzumuten.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Einreise, um Sozialhilfe zu erlangen, Einreisemotiv, Serbien und Montenegro, Kosovo, Roma, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Kausalzusammenhang, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Zumutbarkeit, Kinder, Eltern, Zurechenbarkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 1a Nr. 1; AsylbLG § 2 Abs. 1; SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG sind nicht ausgeschlossen, wenn zwar in der Vergangenheit rechtsmissbräuchliches Verhalten vorlag, dieses aber nicht mehr aktuell fortwirkt; allein die Weigerung, freiwillig auszureisen, stellt kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar; Roma aus dem Kosovo ist die freiwillige Ausreise nicht zuzumuten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Antragsteller zu 1. bis 4. dürften bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage einen Anspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. dem SGB XII besitzen, dem - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - auch nicht § 1 a AsylbLG bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII entgegenstehen dürften.

Zu der Frage, wann eine Einreise zur Erlangung von Leistungen erfolgt ist, hat das Lan-dessozialgericht Niedersachsen-Bremen im Zusammenhang mit der Regelung des § 1 a AsylbLG im Beschluss vom 25.04.2005 - L 7 AY 7/05 ER und L 7 B 4/05 AY - Folgendes ausgeführt:

"Die Voraussetzungen diese Regelungen [§ 1 a Nr. 1 AsylbLG] liegen vor, wenn ein finaler Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme der Leistung besteht. Dieser Zusammenhang besteht nicht nur dann, wenn der Wille, die Leistung zu erhalten, einziger Einreisegrund ist. Beruht die Einreise auf verschiedenen Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhangs auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Leistungen für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung gewesen ist. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen zu sein, für den Einreiseentschluss, sei es allein, sei es neben anderen Gründen, in besonderer Weise bedeutsam gewesen sein muss. Es genügt demgegenüber nicht, dass der Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beiläufig erfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne nur billigend in Kauf genommen wird. Die nur in das Wissen des Ausländers gestellten Gründe für seine Ausreise muss dieser benennen und widerspruchsfrei sowie substanzreich darlegen, um der Behörde und dem Gericht die Möglichkeit zu geben, zu prüfen, ob der genannte Tatbestand erfüllt ist (BVerwG, Urteil vom 04.06.1992 - 5 C 22.87 - BVerwGE 90, 212 zur inhaltlich gleichen Regelung des § 120 BSHG; W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, Kommentar, § 1 a, Rn. 10 ff.)."

Indizien dafür, dass prägendes Motiv der Einreise der Wunsch zur Erlangung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist, können die rechtskräftige Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet, die Einreise über einen sicheren Drittstaat, eine angestrebte Erwerbstätigkeit ohne begründete Erfolgsaussicht, ein Antrag auf Leistungen nach dem AsylbLG zeitnah nach der Einreise, die Einreise mit geringen oder keinen Eigenmitteln, die Einreise zu hilfebedürftigen Personen, Hilfebedürftigkeit im Heimatland und unsubstanziiertes, widersprüchliches Vorbringen sein (vgl. GK-AsylbLG, Stand: Dez. 2004, § 1 a, Rn. 57-70 m.w.N.; Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 23, Rn. 19; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 2005, AsylbLG, § 1 a, Rn. 9, m.w.N.). Indizien gegen eine leistungsmissbräuchliche Einreiseabsicht können alltägliche Diskriminierungen gegen die Volksgruppe des Ausländers in seinem Heimatland, die Furcht vor politischer Verfolgung, kriegerische Auseinandersetzungen im Heimatland und der Wunsch, mit hier lebenden Familienangehörigen zusammenwohnen zu wollen, sein (vgl. GK-AsylbLG, Stand: Dez. 2004, § 1 a Rn. 72-76; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 2005, AsylbLG, § 1 a, Rn. 8, jeweils m.w.N.). In jedem Fall bedarf es insoweit einer umfassenden Prüfung der Umstände der Einreise, bei der alle für und gegen eine leistungsmissbräuchliche Einreiseabsicht sprechenden Umstände des konkreten Einzelfalls zu würdigen sind (OVG Lüneburg, Beschluss vom 7.10.2002 - 12 ME 632/02). Die Darlegungs- und Beweislast für den Ausschlusstatbestand wird insoweit dem Hilfeträger aufgebürdet (Schellhorn/Schellhorn, BSHG, 16. Auflage, AsylbLG, § 1 a, Rn. 12 m.w.N.; Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 23, Rn. 19 m.w.N.; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 2005, AsylbLG, § 1 a, Rn. 7 m.w.N.).

Das Gericht geht nach dem Vortrag der Antragsteller davon aus, dass prägendes Motiv für die Einreise nach Deutschland die Furcht vor Repressalien wegen der Teilnahme an einer Demonstration und wegen der Entziehung vom Wehrdienst war.

Soweit die Antragsgegnerin darauf verweist, dass die rechtskräftige Ablehnung des Asylantrags, die Einreise über einen sicheren Drittstaat und die Einreise mit geringen Eigenmitteln darauf hindeuteten, dass es sich um eine rechtsmissbräuchliche Einreise handele, folgt das Gericht dieser Argumentation nicht. Bei der rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrages berücksichtigt das Gericht dabei die Tatsache, dass das Verwaltungsgericht Göttingen in seinem Urteil vom 22. Februar 1995 (3 A 3081/05) immerhin eine Asylanerkennung der Antragsteller ausgesprochen hat, auch wenn diese dann vom Nds. Oberverwaltungsgerichts wieder aufgehoben wurde. Insoweit handelt es sich nicht um einen Fall der Ablehnung als offensichtlich unbegründet. Auch die Einreise über einen sicheren Drittstaat rechtfertigt für sich alleine nicht die Annahme, dass eine Einreise zum Zweck der Inanspruchnahme von Sozialleistungen erfolgt (GK-Asylbewerberleistungsgesetz, Stand: 23.12.2004, § 1 a, Rdn. 59; Fasselt in: Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 2005, AsylbLG, § 1 a, Rn. 8 m.w.N.).

Nach Auffassung des Gerichts erfüllen die Antragsteller zu 1 bis 4 auch die Voraussetzungen für den Leistungsbezug nach § 2 AsylbLG.

Nach Auffassung des Gerichts kann der Begriff des Rechtsmissbrauchs in der Neufassung von § 2 AsylbLG nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er auch Fälle umfasst, in denen Personen lediglich der Möglichkeit der freiwilligen Ausreise nicht nachkommen. Nach der Gesetzesbegründung zur Neufassung zu § 2 AsylbLG (Bundesdrucksache 15/420 [121] Gesetzesentwurf - Zuwanderungsgesetz zu Nr. 3) ist ein Rechtsmissbrauch beispielsweise dann anzunehmen, wenn jemand seinen Pass vernichtet oder Angaben einer falschen Identität macht. Zwar haben die Antragsteller in der Vergangenheit durch die Angabe eines falschen Namens über ihre Identität getäuscht, so dass insoweit im Grundsatz ein von § 2 Abs. 1 AsylbLG missbilligtes Verhalten vorliegt. Jedoch versteht das Gericht diese Vorschrift nicht so, dass jedes in der Vergangenheit liegende rechtsmissbräuchliche Verhalten einen Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz - unabhängig davon, ob es zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über Leistungen nach § 2 AsylbLG weiter ursächlich für die Dauer des Verbleibs des Hilfebedürftigen im Bundesgebiet ist - endgültig und für alle Zeiten vom Bezug der Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ausschließen will. Vielmehr dürfte diese Vorschrift so auszulegen sein, dass das rechtsmissbräuchliche Verhalten sich in dem Zeitraum, für den Leistungen nach § 2 AsylbLG begehrt werden, immer noch auf die Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik auswirkt (so auch SG Hannover, Gerichtsbescheid vom 24.06.2005, S 51 AY 64/05 ER). Dies ist im Fall der Antragsteller nicht gegeben, da die Antragsteller geduldet werden, weil sie angeben, Roma aus dem Kosovo zu sein. Auch die Antragsgegnerin hat nicht behauptet, dass die Antragsteller wegen der Täuschung über ihre Identität rechtsmissbräuchlich die Dauer ihres Aufenthaltes in Deutschland beeinflussen, sondern sie legt den Antragstellern in diesem Zusammenhang allein zur Last, dass sie nicht freiwillig ausreisen. Insoweit beeinflussen die falschen Angaben zur Identität jedenfalls nicht die Dauer des jetzigen Aufenthaltes der Antragsteller.

Dass die Weigerung, freiwillig auszureisen, wie von der Antragsgegnerin vorgetragen rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG ist, ist eine Einschätzung, die das erkennende Gericht nicht teilt. Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zum Asylbewerberleistungsgesetz, dass ein Rechtsmissbrauch (nur) dann anzunehmen ist, wenn der Ausländer seine Rückführung verhindert bzw. zu verhindern versucht, in dem er entweder aktiv bestimmte Maßnahmen ergreift (Vernichtung des Passes) oder durch passives Verhalten ausdrücklichen Mitwirkungspflichten zuwiderhandelt (Angabe der richtigen Identität). Die Rückführung der Antragsteller scheitert im vorliegenden Fall jedoch weder an einem Tun, noch an einem Unterlassen der Antragsteller, sondern vor allem daran, dass die Antragsgegnerin selbst aufgrund der derzeitigen Erlasslage keine Rückführung von Roma in den Kosovo vornimmt. Damit nutzen die Antragsteller in dieser Konstellation lediglich eine für sie günstige, von der Antragsgegnerin zugelassene Situation aus (derzeitiges Absehen von Abschiebungsmaßnahmen), welche die Antragsgegnerin selbst beenden könnte, wenn sie wollte. Dieses Verhalten kann nach Ansicht der Kammer nicht die Voraussetzungen der Annahme von Rechtsmissbrauch erfüllen. Wenn der Staat selbst von der Vollstreckung der grundsätzlichen Ausreisepflicht abgelehnter Asylbewerber absieht, stellt sich das bloße Nichtausreisen nicht als treuwidrige Verhinderung der Rückführung dar, so dass auch kein Rechtsmissbrauch angenommen werden kann (im Ergebnis ebenso SG Hannover, Beschluss vom 9.05.2005, S 51 AY 51/05 ER; Beschluss vom 4.02.2005, S 51 AY 8/05 ER und Gerichtsbescheid vom 19.05.2005, S 51 AY 29/05). Soweit die Antragsgegnerin sich auf eine neuere Entscheidung des Sozialgerichts Hannover vom 1.9.2005 (S 51 AY 81/05 ER) berufen hat, in dem das SG Hannover - in Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung - im Fall von Ashkali aus dem Kosovo Rechtsmissbrauch bejaht hat, weil diese nicht freiwillig in ihr Heimatland zurückkehrten, folgt die erkennende Kammer dem ausdrücklich nicht. Abgesehen davon, dass in dem vom SG Hannover entschiedenen Fall offenbar die Rückführung eingeleitet war und die Behörde damit offenbar die Ausreisepflicht tatsächlich vollstrecken wollte, kann nach Auffassung der erkennenden Kammer nur die Weigerung bei der Mitwirkung behördlich veranlasster Maßnahmen rechtsmissbräuchlich sein, nicht aber das Fehlen freiwilliger Ausreisebemühungen. Insoweit teilt das Gericht auch nicht die Einschätzung des SG Würzburg im Beschluss vom 1. März 2005 (S 15 AY 2/05 ER), wonach die bloße Nichtbefolgung einer Ausreisepflicht bereits rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG sein soll. Wie die erkennende Kammer oben bereits dargelegt hat, ist ein zusätzliches vorwerfbares Handeln oder Unterlassen erforderlich, um von einem Rechtsmissbrauch ausgehen zu können und das bloße Ausnutzen fehlender Rückführungsbemühungen durch die Ausländerbehörden erreicht nach Ansicht der Kammer nicht die Schwelle des Rechtsmissbräuchlichen. Insofern besteht auch ein qualitativer Unterschied zwischen Verstößen gegen rechtliche Regelungen (Aufenthalts-, Melde- und Auskunftspflichten) auf der einen Seite und der Nutzung einer Rechtsposition (Duldung) auf der anderen Seite, mit der Folge, dass nur die erstgenannten Rechtsverstöße auch den Tatbestand des Rechtsmissbrauchs erfüllten (so im Ergebnis auch LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 12.10.2005, L 7 AY 1/05 ER).

Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, dass Rechtsmissbrauch bei nicht erfolgter freiwilliger Ausreise vorliege, wenn die freiwillige Ausreise für den Leistungsberechtigten zumutbar gewesen wäre (Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 I AsylbLG F. 2005, NVwZ 2005, 388, 390), führt dies für den vorliegenden Fall zu keiner anderen Bewertung. Bereits angesichts der Unruhen im März 2004 mit einer Eskalation ethnisch motivierter Gewalt ist immer (noch) fraglich, ob eine freiwillige Rückkehr in den Kosovo zumutbar wäre (vgl. z. B. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.01.2005, 7 S 1769/02). Zudem haben die Erlasse des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 25.06.2004 und vom 23.09.2004, die trotz der Annahme der Möglichkeit zur freiwilligen Rückkehr noch keine Wiederaufnahme der Rückführung von Roma aus dem Kosovo vorsehen, weiterhin Gültigkeit und sind als Indiz dafür zu werten, dass die Situation im Kosovo offensichtlich nicht unproblematisch ist. Schließlich ergibt sich aus einem weiteren Runderlass des Nds. Innenministeriums vom 3.05.2005, dass eine Rückkehr von Roma aus dem Kosovo derzeit aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist und lediglich die Absicht der UNMIK besteht, die Rücknahme von bundesweit 70 nicht schutzbedürftigen Roma-Straftätern zu prüfen. Auch wenn in allen diesen Erlassen auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise hingewiesen wird, sprechen die in den Erlassen angeführten Probleme nach Auffassung des Gerichts derzeit wenig dafür anzunehmen, dass eine Rückkehr tatsächlich (schon) zumutbar ist.

Vorstehende Erwägungen geltend entsprechend auch für die in Deutschland geborenen Antragsteller zu 5. und 6. Für sie käme eine Leistungseinschränkung nach § 23 SGB XII bzw. § 1 a AsylbLG nur bei einer entsprechenden Zurechnung des Verhaltens der Eltern (Antragsteller zu 1 und 2) in Betracht, da die Antragsteller zu 5. und 6. erst in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurden. In diesem Zusammenhang wird jedoch angenommen, dass sich ein Ausländer bzw. Asylantragsteller, der erst nach der Einreise seiner Eltern in Deutschland geboren wurde, nicht den Geltungsbereich des BSHG/AsylbLG begeben haben kann, um Sozialhilfe/Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu beziehen, da es an einer entsprechenden Einreise fehlt (OVG Münster, FEVS 48, 541, zitiert nach Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 2005 SGB XII, § 23, Rn. 33 und derselbe, AsylbLG, § 1 a, Rn. 10).