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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - asyl.net: M7617
https://www.asyl.net/rsdb/M7617
Leitsatz:

Auch eine längere Strafhaft berührt nicht die Rechte von Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer aus Art. 7 ARB 1/80; eine ausschließlich oder teilweise generalpräventiv begründete Ausweisung eines Unionsbürgers oder eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist rechtswidrig.

 

Schlagwörter: Ausweisung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Familienangehörige, Strafhaft, Jugendstrafe, Erlöschen, Generalprävention, Entscheidungszeitpunkt
Normen: RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 14
Auszüge:

Auch eine längere Strafhaft berührt nicht die Rechte von Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer aus Art. 7 ARB 1/80; eine ausschließlich oder teilweise generalpräventiv begründete Ausweisung eines Unionsbürgers oder eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist rechtswidrig.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Revision ist begründet. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein noch die Ausweisung des Klägers. Sie verstößt gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG - RL 64/221/EWG - und gegen die materiellen gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Ausweisungsverfügungen.

1. Der Verwaltungsgerichtshof durfte nicht offen lassen, ob der Kläger ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - besitzt. Insoweit reichen allerdings die Feststellungen in den vorinstanzlichen Entscheidungen und aus den vorliegenden Akten - wie in der Revisionsverhandlung erörtert - aus, um eine assoziationsrechtlich privilegierte Rechtsstellung des Klägers aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 anzunehmen. Danach steht nämlich fest, dass die Mutter des Klägers zumindest seit 1987 berufstätig gewesen ist (vgl. auch Arbeitgeberbescheinigung 1995, Ausländerakten S. 6) und dass der Kläger seit seiner Geburt 1979 bei den Eltern aufgewachsen ist. Der Kläger erfüllt daher sämtliche Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80.

Diesen Status hat er nach den Feststellungen im Berufungsurteil - entgegen der Auffassung des Beklagten - auch nicht dadurch verloren, dass er mehr als ein Jahr lang die verhängte Jugendstrafe verbüßt hat. Durch die Rechtsprechung des EuGH ist inzwischen geklärt (vgl. Urteil vom 11. November 2004 a.a.O. - Cetinkaya - Rn. 36 ff.), dass auch eine längere Strafhaft die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht berührt. Danach unterliegt das Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das den Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers zusteht, zweierlei Beschränkungen. Zum einen ermöglicht es Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 den Mitgliedstaaten, in Einzelfällen bei Vorliegen triftiger Gründe den Aufenthalt des türkischen Migranten in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken, wenn dieser durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet. Zum anderen verliert der Familienangehörige, der die Genehmigung erhalten hat, zu einem türkischen Arbeitnehmer in einen Mitgliedstaat zu ziehen, der jedoch das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt, grundsätzlich die Rechtsstellung, die er aufgrund von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben hatte (EuGH a.a.O. unter Hinweis auf Urteil vom 16. März 2000 a.a.O. - Ergat - Rn. 45, 46 und 48). Daraus folgert der EuGH, dass die Rechte, die Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers verleiht, welche die Voraussetzung der Mindestwohnzeit erfüllen, nur nach Art. 14 ARB 1/80 beschränkt werden können, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder weil der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe verlassen hat (EuGH a.a.O.). Diese Rechtsprechung hat der EuGH in seinen Urteilen vom 7. Juli 2005 in den Rechtssachen C-373/03 a.a.O. - Aydinli - (zu Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80) und C-383/03 - Dogan - juris (zu Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80) fortgeführt und bekräftigt. Ob diese Grundsätze abschließend die Beschränkungen der Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 umschreiben oder ob es weitere Einschränkungen geben kann (vgl. Vorlagebeschluss des Senats vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 27.02 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 41 zu Art. 7 ARB 1/80), bedarf hier keiner weiteren Erörterung und Entscheidung.

2. Hatte der Kläger aber ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80, so durfte er nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ausgewiesen werden.

Nach dem Urteil des Senats vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - (zur Veröffentlichung vorgesehen) sind diese europarechtlichen Verfahrensgarantien, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.

3. Die Ausweisung verstößt außerdem auch gegen materielles Gemeinschaftsrecht.

a) Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - (BVerwGE 121, 315 = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 39) seine Rechtsprechung geändert und entschieden, dass die in § 47 Abs. 1 und 2 des mit Ablauf des 31. Dezember 2004 außer Kraft getretenen Ausländergesetzes (AuslG) geregelten Tatbestände einer zwingenden Ausweisung und einer Regelausweisung (jetzt: §§ 53, 54 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) als Rechtsgrundlagen für die Beendigung des Aufenthalts von türkischen Staatsangehörigen ausscheiden, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen. Der Senat hat damit die materiellrechtlichen Grundsätze, die aus der Entscheidung des EuGH vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 -, Orfanopoulos und Oliveri, DVBl 2004, 876 = InfAuslR 2004, 268) für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger abzuleiten waren (Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 = Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 15), auch auf türkische Staatsangehörige übertragen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können. Auch diese dürfen nur nach §§ 45, 46 AuslG (jetzt: § 55 AufenthG) in Verbindung mit den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Andererseits darf nach materiellem Gemeinschaftsrecht eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit - als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit - nur auf ein Verhalten des Betroffenen gestützt werden, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des Gemeinschaftsrechts darstellt. Daraus ergibt sich, dass für die gerichtliche Überprüfung der Ausweisung nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigter türkischer Staatsangehöriger die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - a.a.O.; ebenso EuGH, Urteil vom 11. November 2004 a.a.O. - Cetinkaya - Rn. 41 ff.).

b) Mit dieser geänderten Rechtsprechung ist das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts nicht zu vereinbaren, obwohl die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger auf der Grundlage der §§ 47, 48 AuslG (vgl. jetzt §§ 53, 56 AufenthG) als herabgestufte Ermessensentscheidung ergangen ist. Das ergibt sich ungeachtet der

weiteren Einwände des Klägers schon daraus, dass der Verwaltungsgerichtshof die Gefahr der Begehung erneuter Straftaten aufgrund der Sachlage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung - hier: vom Oktober 2001 - beurteilt hat, ohne spätere Entwicklungen bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht - hier: im Januar 2004 - zu berücksichtigen.

c) Mit gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ist es ferner unvereinbar, die Ausweisung tragend oder auch nur - wie hier - mittragend auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des Ausländers liegende sog. generalpräventive Erwägungen zu stützen (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - a.a.O.), wie es das Regierungspräsidium getan (vgl. Bescheid vom 1. Oktober 2001 S. 5, 6 und 9) und der Verwaltungsgerichtshof im Ergebnis für unbedenklich gehalten hat (vgl. UA S. 21). Die Annahme des Regierungspräsidiums, die Ausweisung des Klägers habe "neben primär spezial- auch aus hilfsweise und ergänzend vorgebrachten generalpräventiven Gründen" verfügt werden dürfen (vgl. Bescheid S. 5) und "generalpräventive Erwägungen" seien insbesondere auch "durch die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen des ARB 1/80 ... im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht von vornherein ausgeschlossen" (a.a.O. S. 6), ist mit Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar. Das gilt auch für die Auffassung des Berufungsgerichts, der angefochtene Bescheid begegne trotz der angeführten (generalpräventiven) Erwägungen des Regierungspräsidiums keinen rechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, weil die Ausweisung "nicht ausschließlich generalpräventiv begründet", sondern "in erster Linie im Hinblick auf die berechtigte Annahme verfügt" worden sei, der Kläger werde weitere Straftaten begehen (UA S. 21). Generalpräventive Ermessenserwägungen sind nur zulässig, wenn und soweit die Ausweisung ausschließlich - etwa bei den nicht durch Gemeinschaftsrecht privilegierten türkischen Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 - auf nationales Recht gestützt werden kann. Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber zur - auch nur "ergänzend" oder sekundär als Nebenzweck verfolgten - (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer.