LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12.10.2005 - L 7 AY 1/05 ER - asyl.net: M7545
https://www.asyl.net/rsdb/M7545
Leitsatz:

Allein die Weigerung der freiwilligen Ausreise stellt keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG dar.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Serbien und Montenegro, Kosovo, Roma, Aufnahmebedingungen
Normen: AsylbLG § 2; RL 2003/9/EG Art. 16
Auszüge:

Allein die Weigerung der freiwilligen Ausreise stellt keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG dar.

(Leitsatz der Redaktion)

Das SG Hannover hat durch den angefochtenen Beschluss vom 20. Januar 2005 die Antragsgegnerin zu Recht zur Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG an den Antragsteller mit Wirkung ab 11. Januar 2005 verpflichtet.

Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob der Antragsteller die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. Die mit Wirkung ab 1. Januar 2005 in Kraft getretene Neuregelung des § 2 Abs. 1 (Art. 8 Nr. 3 des Gesetzes vom 30.07.2004 - BGBl I 1950) knüpft hinsichtlich der Bestimmung über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens an die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten an (Amtsblatt der Europäischen Union vom 06.02.2003 - L 31/18). In Art. 16 der Richtlinie, der die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile regelt, werden Formen von "negativem Verhalten" zusammengefasst, die auf nationaler Ebene eine Einschränkung der Leistungen erlauben (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 10.01.2003 zu der Neuregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG - BR-Drucks 22/03 S. 296). Sinn dieser Änderung des AsylbLG ist es, den Anreiz zur missbräuchlichen Asylantragstellung weiter einzuschränken, was schließlich zu einer Reduzierung der Anträge und damit insgesamt zu einer Verfahrensbeschleunigung führen soll (Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 10.01.2003, aaO, S. 295).

Dies zugrunde gelegt, teilt der Senat die Auffassung in dem angefochtenen Beschluss des SG Hannover vom 20 Januar 2005, dass der Antragsteller Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG mit Wirkung ab 11. Januar 2005 beanspruchen kann, weil er die Dauer seines Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG. Anders als die noch bis zum 31. Dezember 2004 geltende Regelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG, wonach eine leistungsrechtliche Besserstellung dann in Betracht kam, wenn sowohl einer freiwilligen Ausreise als auch dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegenstehende Gründe vorliegen mussten, ist nach der Neuregelung des § 2 Abs. 1 AsylbLG entscheidend, ob die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst wurde. Dabei kommt es auf die gesamte Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet und nicht etwa nur z. B. auf die Dauer des Aufenthalts nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrags an (so bereits der Beschluss des Senats vom 19. 08.2005 - L 7 AY 12/05 ER -).

Zwischen den Beteiligten ist allein streitig, ob der Antragsteller, dessen Asylverfahren rechtskräftig mit einer für ihn negativen Entscheidung abgeschlossen ist, durch seine Weigerung auszureisen die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG. Der Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland nach rechtskräftigem Abschluss seines Asylverfahrens wird wegen seiner Volkszugehörigkeit als Roma aus dem Kosovo ausländerrechtlich geduldet (vgl. Rd.Erlasse des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 25.06., 23.09.2004 und 03.05.2005). Eine Rückkehr von Roma in das Kosovo ist danach derzeit aus tatsächlichen Gründen nicht möglich; es besteht lediglich die Absicht der UNMIK zu prüfen, ob die Rücknahme von bundesweit 70 nicht schutzbedürftigen Roma-Straftätern in Betracht kommt (Rd.Erl. v. 03.05.2005). Demgegenüber wird die freiwillige Ausreise in das Kosovo auch für Roma für möglich gehalten. Der Umstand, dass der Antragsteller sich weigert, von dieser nach Auffassung der Ausländerbehörde bestehender freiwilligen Ausreisemöglichkeit Gebrauch zu machen, beeinflusst zwar die Dauer des Aufenthalts in Deutschland. Dies geschieht indes nicht in rechtsmissbrauchlicher Weise.

Ob ein Verhalten des Ausländers als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts zu werten ist, ist unter Berücksichtigung des Zwecks der Regelung zu entscheiden. Weil die Regelung nach dem offenkundigen Willen des Gesetzgebers die Regelung des Art. 16 der "Richtlinien" umsetzen soll, ist diese zur Auslegung des § 2 Abs. 1 AsylbLG heranzuziehen (Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG S. 2005, NVWZ 2005 S. 388 f, 389). Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst a) können die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile einschränken oder entziehen, wenn ein Asylbewerber ohne Genehmigung der zuständigen Behörde seinen zugewiesenen Aufenthaltsort verlässt, seinen Melde- und Auskunftspflichten nicht nachkommt oder wenn er im gleichen Mitgliedstaat bereits einen Antrag gestellt hat. Daraus ist zu schließen, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG immer dann anzunehmen ist, wenn das Verhalten erkennbar der Verfahrensverzögerung und somit der Aufenthaltsverlängerung dient, obwohl eine Ausreise möglich und zumutbar wäre (Herbst, a.a.O., Rdnr. 26). Weitere Auslegungskriterien für die Entscheidung der Frage rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sind unter rechtsystematischen Gesichtspunkten zudem der Regelung des § 1a AsylbLG zu entnehmen. Diese Regelung sieht Leistungseinschränkungen im Falle leistungsmissbräuchlicher Einreiseabsichten und missbräuchlicher Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen aus vom Leistungsberechtigten zu vertretenden Gründen vor (Hohm, a.a.O., 390).

Dies zugrunde gelegt, ist der Verzicht des Antragstellers auf eine freiwillige Ausreise nicht als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts zu werten. Zwar ist der Antragsteller nach Abschluss des Asylverfahrens zur Ausreise verpflichtet, weil er keinen Aufenthaltstitel besitzt (§§ 50, 10; 60 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz). Durch die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ist es dem Antragsteller jedoch erlaubt, sich - vorübergehend - trotz bestehender Ausreisepflicht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Der Umstand, dass der Antragsteller diese Rechtsposition nutzt und nicht freiwillig in das Kosovo ausreist, bedeutet im Hinblick darauf, dass die Ausländerbehörde eine Abschiebung von Roma in das Kosovo nach dem genannten Runderlass vom 23. September 2004 nach wie vor aus tatsächlichen Gründen nicht für möglich hält, keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts im Sinn des § 2 Abs. 1 AsylbLG.

Legt man die in Art. 16 Abs. 1a der "Richtlinien" genannten Voraussetzungen für die Einschränkung oder Entziehung der gewährten Vorteile als Auslegungskriterien zugrunde, das heißt Verstöße gegen Aufenthalts-, Melde- und Auskunftspflichten, gelangt man zum gleichen Ergebnis. Bei den dort genannten rechtsmissbräuchliches Verhalten begründenden Umständen, handelt es sich jeweils um Verstöße gegen rechtliche Regelungen. Das Gleiche gilt hinsichtlich der in § 1 a AsylbLG genannten Voraussetzungen. Davon zu unterscheiden ist die Nutzung einer Rechtsposition, wie dies bei der Nutzung der Duldung durch den Antragsteller der Fall ist.