VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 09.09.2005 - unbekannt - asyl.net: M7510
https://www.asyl.net/rsdb/M7510
Leitsatz:

Widersprüche und Lücken bei der Schilderung der erlittenen Verfolgung (hier: Nichterwähnen einer Vergewaltigung) sprechen bei einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben; Flüchtlingsanerkennung einer jungen Tamilin aus Sri Lanka wegen Festnahme und Vergewaltigung durch Sicherheitskräfte.

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Vergewaltigung, Flüchtlingsfrauen, Sicherheitskräfte, Sippenhaft, LTTE, Haft, hinreichende Sicherheit, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Widersprüche und Lücken bei der Schilderung der erlittenen Verfolgung (hier: Nichterwähnen einer Vergewaltigung) sprechen bei einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben; Flüchtlingsanerkennung einer jungen Tamilin aus Sri Lanka wegen Festnahme und Vergewaltigung durch Sicherheitskräfte.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung gegen die Beklagte, dass hinsichtlich ihrer Person die Voraussetzungen des Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind.

1. Die Klägerin war in Sri Lanka einer Maßnahme staatlicher Verfolgung ausgesetzt.

a. Auszugehen ist von folgendem Lebenssachverhalt:

Um der zwangsweisen Rekrutierung durch die LTTE zu entgehen, verließ die Klägerin mit ihrer Mutter Anfang 2001 den Heimatort M, um nach Colombo zu gehen. Für einen Zwischenaufenthalt von einer Woche wohnten sie in Mannar bei einem Cousin der Mutter. Dort wurden Mutter und Tochter von Soldaten festgenommen und zu einer Art Armeecamp gebracht. Die Klägerin wurde von der Mutter getrennt und in einen dunklen Raum gesperrt. Drei Soldaten haben sie am ersten Tag dazu befragt, wo ihr (für die LTTE tätiger) älterer Bruder sich aufhalte. Sie konnte dazu keine Angaben machen. Deshalb wurde sie geschlagen. Am nächsten Tag sind wieder Soldaten zu ihr gekommen. Sie wurde wieder geschlagen und infolgedessen bewusstlos. Als sie aufwachte, war ihre Kleidung und Wäsche zerrissen und mit Blut verschmutzt. Sie hatte u.a. starke Unterleibsschmerzen. Am nächsten Tag wurde sie entlassen, nachdem ihr Onkel hierfür Bestechungsgeld gezahlt hatte. Mit diesem ist sie dann nach Colombo gereist, wo mit finanzieller Hilfe der im Ausland lebenden Brüder die Ausreise organisiert wurde. Über das Schicksal ihrer Mutter wusste sie zunächst nichts, später erfuhr sie, dass diese nach ihr entlassen wurde. Wegen der Schläge war sie bei einem Arzt in Colombo. Ihre Tante gab ihr nach Kenntnis von den Ereignissen in der Haft einen besonderen Saft zu trinken. Sie vermutete schon damals, dass sie in der Haft vergewaltigt wurde. Erst später erfuhr sie, dass dieses Getränk in Sri Lanka zur Verhinderung ungewollter Schwangerschaften verabreicht wird.

b. Die vorstehend geschilderten Ereignisse stehen zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der Feststellungen des Dr. ... im Gutachten vom 4. Dezember 2003.

Dieser diagnostizierte bei der Klägerin eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit Fortbestehen der Symptome (ICD 10 F 43.1) und rezidivierende schwere depressive Episoden mit Suizidgedanken und Zustand nach Suizidversuch (ICD 10 F 33.2).

Nach den Feststellungen des Gutachters beruht das diagnostizierte Krankheitsbild auf dem zu a. geschilderten Erlebnis der Klägerin im Heimatland. Dabei hat er die Glaubhaftigkeit der Schilderung einer kritischen Würdigung unterzogen. Insbesondere führt er aus, dass Brüche in der Darstellung und auch ein vom Gutachter näher aufgezeigter Widerspruch bezüglich des Kerngeschehens nicht gegen die "Glaubwürdigkeit" der Aussage sprechen (Blatt 20 des Gutachtens).

Verzerrungen, Widersprüche und Ungereimtheiten in der Darstellung gehören in der Tat zum typischen Krankheitsbild der PTBS (vgl. Middeke, a.a.O.), so dass auch weitere Abweichungen bezüglich des Randgeschehens, die die Klägerin zudem in der mündlichen Verhandlung vom 9. September 2005 weitgehend auflösen konnte, ebenso zu vernachlässigen sind wie der Umstand, dass sie die traumatisierenden Ereignisse gegenüber dem Bundesamt nicht erwähnte.

c. Die zu a. geschilderten Ereignisse in der Haft stellen sich als Maßnahme politischer Verfolgung dar.

Die Vergewaltigung der Klägerin, von der nach den geschilderten Umständen ausgegangen werden kann, steht allerdings wohl nicht mehr im Zusammenhang mit der Befragung zum Verbleib des für die LTTE tätigen Bruders, der heute in Frankreich als Asylberechtigter anerkannt sein soll.

Jedenfalls knüpft jeder dieser denkbaren Beweggründe an ein asylerhebliches Merkmal an, sei es an die tamilische Volkszugehörigkeit der Klägerin, sei es - mittelbar- an die politische Überzeugung des für die LTTE kämpfenden Bruders, wobei der staatliche Eingriff dann aber zu einer gegen die Klägerin selbst - quasi als Stellvertreterin - gerichtete Verfolgungsmaßnahme wurde (zur sog. "Sippenhaft" vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 239/80 -, Informationsbrief Ausländerrecht - InfAuslR - 1982, 245 f.).

Die Misshandlung ist dem srilankischen Staat auch zuzurechnen.

Übergriffe gegen weibliche tamilische Volkszugehörige im Sinne eines planmäßigen Vorgehens im größeren Umfang können nach der Auskunftslage nicht angenommen werden.

Wird gleichwohl hinsichtlich der Häufigkeit noch auf Einzelfälle abgestellt, sind diese dem Staat dann zurechenbar, wenn er solche Taten zumindest tatenlos hinnimmt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. Dezember 1995 - 9 B 589/95 - und vom 8. November 2002 -1 B 20/02- m.w.N.).

Davon ist jedenfalls für die Zeit des Bürgerkrieges in Sri Lanka, d.h. bis zum Beginn der Friedensbemühungen Ende 2001/Anfang 2002, auszugehen (zur politischen Entwicklung vgl. die ausführliche Darstellung im Urteil des OVG NRW vom 19. November 2004 - 21 A 580/99.A).

2. Aufgrund der erlittenen Vorverfolgung ist darauf abzustellen ist, ob Verfolgungsmaßnahmen künftig mit hinreichender Sicherheit für die Klägerin ausgeschlossen werden können. Dies ist aufgrund der allgemeinen politischen Lage in Sri Lanka - auch in Würdigung der ab Ende 2001 einsetzenden Friedensbemühungen - nicht der Fall. Zur Begründung wird auf das zum Gegenstand des Verfahrens gemachte Urteil des OVG NRW vom 19. November 2004 -21 A 580/99.A - Bezug genommen.