VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 14.06.2005 - 4 A 1507/03 - asyl.net: M7424
https://www.asyl.net/rsdb/M7424
Leitsatz:

Zwar keine generelle extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 AufenthG, wohl aber für Kinder, Jugendliche und geschwächte Personen; keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten von HIV-Infektion in der Demokratischen Republik Kongo.

 

Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, HIV/Aids, Krankheit, Abschiebungshindernis, medizinische Versorgung, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Kinder, Widerruf, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Zwar keine generelle extreme Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 AufenthG, wohl aber für Kinder, Jugendliche und geschwächte Personen; keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten von HIV-Infektion in der Demokratischen Republik Kongo.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 73 Abs. 3 AsylVfG. Danach ist die Entscheidung über das Bestehen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG (zuvor § 53 Abs. 6 AuslG) zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. So liegt der Fall hier jedoch nicht. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG sind weiterhin gegeben; in der Person des Klägers liegen Gründe vor, die bei einer Rückkehr in die DR Kongo zu einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben führen würden. Dies folgt aus seiner CDC A2 zu qualifizierenden Aids-Erkrankung mit der besonderen Komplikation einer bereits durchgemachten infektiösen Hepatitis B. Der Kläger würde bei einer Rückkehr in die DR Kongo aufgrund der dort herrschenden Lebensumstände insbesondere hinsichtlich der katastrophalen medizinischen Versorgung in eine schwere und extreme Gefahrenlage geraten.

Zwar handelt es sich bei der desolaten wirtschaftlichen Lage und der schlechten medizinischen Versorgung in der DR Kongo um Missstände, unter denen die gesamte Bevölkerung zu leiden hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ist nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) ausnahmsweise Abschiebungsschutz auch bei allgemeinen Gefahren zu gewähren, wenn die obersten Landesbehörden trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, in der jeder einzelne Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tode oder schwersten Verletzungen überantwortet würde, von ihrer Ermessensermächtigung nach § 60 a AufenthG (früher § 54 AuslG) keinen Gebrauch gemacht haben.

Diese hohen Anforderungen an ein verfassungsunmittelbares oder durch verfassungskonforme Auslegung des AufenthG zu erzielendes individuelles Abschiebungshindernis lassen sich nach Auffassung des Gerichts für die DR Kongo generell nicht feststellen. Nach den dem Gericht vorliegenden Auskünften, die in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt worden sind, ist die allgemeine Versorgungslage in der DR Kongo als kritisch und die medizinische Versorgung als desolat zu bezeichnen; dennoch kann nach Überzeugung des Gerichts nicht davon gesprochen werden, dass jeder heimkehrende Kongolese gleichsam "sehenden Auges in den Tod" geschickt würde.

Anders ist die Lage jedoch im Einzelfall zu bewerten, wenn eine Abschiebung von Kindern oder Jugendlichen oder geschwächten Personen droht. Der Kläger leidet an der Immunschwächekrankheit Aids und zwar in einem Stadium, das den Einsatz einer antiretroviralen Therapie erforderlich macht, die in der DR Kongo und selbst in Kinshasa nicht geleistet werden kann. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2005 und den Erkenntnissen des Bundesamtes zur DR Kongo vom März 2004 muss das Gericht davon ausgehen, dass die für den Kläger lebensnotwendige Therapie in der DR Kongo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fortgesetzt werden kann. So haben im Dezember 2003 für geschätzt 345.000 Personen, die eine antiretrovirale Therapie benötigt hätten, nur etwa 1.500 Behandlungsmöglichkeiten (0,4%) zu Verfügung gestanden. Die für den erfolgreichen Verlauf der Therapie erforderlichen regelmäßigen Viruslastbestimmungen sind in Kinshasa laut Lagebericht gar nicht bzw. nur eingeschränkt durchführbar. Eine Abschiebung des Klägers in die DR Kongo ist somit mit einem Therapieabbruch gleichzusetzen. Damit sind aber nach den ärztlichen Stellungnahmen die Voraussetzungen für individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gegeben, denn eine Abschiebung in die DR Kongo würde bedeuten, dass der Kläger "sehenden Auges in den Tod" geschickt würde.