VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 11.10.2005 - 11 K 5363/03 - asyl.net: M7397
https://www.asyl.net/rsdb/M7397
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Verschulden, Integration, in Deutschland geborene Kinder, Schutz von Ehe und Familie, Suizidgefahr, Privatleben, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visum nach Einreise, EGMR, Kindeswohl
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; LV Bad.-Württ. Art. 2 Abs. 2; AufenthG § 5 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 2; Art. 3 UN-Kinderkonvention
Auszüge:

Die Klage ist auch begründet, denn die Kläger haben Anspruch auf die Erteilung der zuletzt beantragten Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO), die am 1.1.2005 an die Stelle der Aufenthaltsbefugnisse getreten sind (§ 101 Abs. 2 AufenthG).

Nach Satz 1 dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindemisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Davon ist bei der Klägerin zu 1. jedenfalls bei einer Ausreise bzw. Abschiebung ohne ihren Sohn auszugehen, wie sich aus den Stellungnahmen des Gesundheitsamts Böblingen vom 24.10.2001 und 11.4.2003 sowie dem Bericht über den Abschiebungsversuch am 18.6.2003 ergibt und auch von den Behörden nicht in Frage gestellt wird. Dass sie in Begleitung ihres Sohnes reisefähig ist und eine Ausreise oder Abschiebung nicht mit Suizidversuchen oder unvertretbaren Gesundheitsgefahren einhergeht, ist entgegen der Auffassung des Beigeladenen nicht hinreichend gesichert.

Dies kann aber derzeit auf sich beruhen, denn der Sohn (Kläger zu 2) ist mit Rücksicht auf seine Familie aus rechtlichen Gründen an der Ausreise gehindert. Ihm wie auch seiner Ehefrau (Klägerin zu 3.) kann bei Beachtung des durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK gebotenen Schutzes der Familie nicht zugemutet werden, ohne ihre Kinder (Kläger zu 4. bis 6.) auszureisen. Eine Ausreise der ganzen Familie wiederum ist auf nicht absehbare Zeit unmöglich, weil sie den Klägern zu 4. und 5. überhaupt nicht zuzumuten ist. Auszugehen ist hierbei von folgenden Erwägungen im Urteil eines anderen Kammermitglieds vom 24.6.2004 (11 K 4809/03, InfAuslR 2005, 106) zur beantragten Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 4 AusfG, der durch § 25 Abs. 5 AufenthG abgelöst wurde: (...)

Auf den vorliegenden Fall und das neue Recht übertragen folgt aus diesen Ausführungen zunächst, dass die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG bei der 17-jährigen Klägerin zu 4. und dem 15-jährigen Kläger zu 5. vorliegen. Beide sind in Deutschland zwar nicht geboren, aber schon als Kleinkinder aufgewachsen, hier verwurzelt und unstreitig erfolgreich integriert, während ein Bezug zu ihrem Herkunftsland offenbar nur durch ihre Eltern und die Großmutter vermittelt wird. Zwar ist allein die Integration eines Kindes nicht vorrangig für den Aufenthalt einer ausländischen Kleinfamilie maßgebend, was auch Befangen der anderen Familienmitglieder widersprechen könnte. Dass Kindern kein von ihren Eltern unabhängiges Aufenthaltsrecht gewährt wird, gilt aber allenfalls bis zu Vollendung des 15. Lebensjahres. Dies lässt sich im Recht auf Wiederkehr nach § 37 AufenthG (bisher § 16 AuslG) der Antragsvoraussetzung nach Abs. 1 Nr. 3 entnehmen, auch wenn nicht gewährleistete persönliche Betreuung Minderjähriger ein Versagungsgrund sein kann (Abs. 3). Den Klägern zu 4. und 5. hingegen ist nicht zuzumuten, ihre eigentliche Heimat zu verlassen, die - auch nach den zahlreichen Bekundungen durch die vorgelegten Unterschriftslisten - in Deutschland liegt und vom Schutz durch Art. 8 EMRK umfasst wird (vgl. Bergmann, Das Menschenbild der EMRK, Baden-Baden 1995, 5. 148 ff). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus diesem Schutz neuerdings über ein Abwehrrecht hinaus ein Aufenthaltsrecht wie folgt abgeleitet (Urt. v. 16.6.2005 - 60654/00 - Sisojeva gg. Lettland, InfAuslR 2005, 349 mit Anm, v. Gutmann): "Die anhaltende Weigerung seitens der lettischen Behörden, den Beschwerdeführern ein Aufenthaltsrecht in Lettland zu gewähren, stellt somit einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung der Privatsphäre dar. Zu prüfen ist, ob dieser Eingriff die Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK erfüllte.

... Was dessen Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft anlangt, ist darauf zu verweisen, dass die Bf., wenngleich nicht von Geburt an Letten, einen Großteil ihres Lebens in Lettland verbracht haben, wo sie gesellschaftlich integriert sind. ... Unter diesen Umständen hätte die Weigerung einer Regelung des Aufenthalts der Beschwerdeführer bzw. die dafür gestellten Bedingungen einer besonderen Rechtfertigung bedurft. Der Gerichtshof vermag keinerlei solche Gründe zu erkennen....

Die verantwortlichen Behörden haben es somit verabsäumt, einen gerechten Ausgleich zwischen dem legitimen Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung und dem Interesse der Beschwerdeführer am Schutz ihrer durch Art. 8 EMRK garantierten Rechte vorzunehmen. Der Eingriff war daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig...."

Auch das Volk von Baden-Württemberg bekennt sich nach Art. 2 Abs. 2 LV zum unveräußerlichen Menschenrecht auf Heimat, woraus ebenfalls abgeleitet werden kann, dass die Staatsorgane bei Ihren Entscheidungen zur Verwirklichung dieses Rechts beizutragen haben (vgl. Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1984, RdNr. 15 zu Art. 2; Feuchte, Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987, RdNr. 28 f zu Art. 2), wie sie ferner nach Art. 3 des Übereinkommens der Vereinten Nationen Ober die Rechte des Kindes (Kinderkonvention, BGBl. II 1992, S, 121 und 990) das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigen müssen. Auf diese Pflichten können sich Ausländer zwar nur berufen, soweit innerstaatlich subjektive Rechtspositionen gewährt sind, was die Bundesrepublik Deutschland bei der Kinderkonvention durch eine Erklärung bezogen auf das Ausländerrecht abgesichert hat (IV. der Bekanntmachung vom 10.7.1992, BGBl. II S 990). Soweit aber die Kinderkonvention Inhalt des Völkergewohnheitsrechts ist (vgl Doehring, Völkerrecht, Heidelberg 1999, RdNr. 981), bleiben daraus abgeleitete Rechte nach Art. 25 GG ebenso unberührt wie die aufgezeigten Ansprüche aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Hiernach sind nicht nur die Kläger zu 4. und 5. unverschuldet an der Ausreise gehindert (§ 25 Abs. 5 S. 3 und 4 AufenthG), sondern auch deren Eltern, weil diese jedenfalls vom Kläger zu 5. in absehbarer Zeit nicht getrennt werden dürfen und die knapp achtjährige Klägerin zu 6. sowie die Klägerin zu 1. zu betreuen haben. Die Aufenthaltserlaubnis soll dann erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist (§ 25 Abs. 5 S. 2 AufenthG). Liegt kein Ausnahmefall vor, so besteht schon deshalb ein Erteilungsanspruch, ohne dass es auf eine entsprechende Ermessensreduzierung im Einzelfall ankäme.

Das Ermessen ist auch insoweit auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse reduziert, als die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht erfüllt sind, aber davon abgesehen werden kann (Abs. 3 2. Halbsatz). Hier dürfte es an dem erforderlichen Visum für den bei der Einreise beabsichtigten Daueraufenthalt (mittels erhoffter Asylgewährung) fehlen (Abs. 2 S. 1), wovon außerdem abgesehen werden kann, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (Abs. 2 S. 2). Die Sollvorschrift des § 25 Abs. 5 S. 2 AuslG dürfte zwar der Anwendung des § 5 Abs. 2 und 3 AuslG nicht entgegenstehen, zeigt aber einen Maßstab auf, der hier ebenfalls zu einem Erteilungsanspruch mittels Ermessensreduzierung führen muss. Denn sie setzt sich sogar im Falle eines Einreise- und Aufenthaltsverbots wegen Ausweisung gegenüber § 11 Abs. 1 AufenthG durch, welches schwerer wiegt als der Visumverstoß vor 13 Jahren bzw. die Erfolglosigkeit der Asylanträge, die im Übrigen zeitweilig durchaus Erfolg versprachen und ggf. schon früher zu einer Aufenthaltsgenehmigung geführt hätten (§§ 68, 70 AsylVfG a.F.). Außerdem ist die Sollvorschrift Ausdruck des gesetzgeberischen Anliegens, sog. Kettenduldungen zu vermeiden, die hier aber wegen Unzumutbarkeit der Ausreise weiterhin zu erteilen wären, wenn keine Aufenthaltserlaubnisse erteilt werden. Hinzu kommt schließlich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass auch die Verweigerung eines regulären Aufenthaltsrechts einer Rechtfertigung bedürfte, die hier nicht zu erkennen ist.