VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 23.08.2005 - 12 E 194/05.A(1) - asyl.net: M7322
https://www.asyl.net/rsdb/M7322
Leitsatz:

Asylanerkennung für pakistanische Staatsangehörige wegen drohendem "Ehrenmord".

Schlagwörter: Pakistan, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Ehrenmord, Außerehelicher Geschlechtsverkehr, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Zina-Gesetz, mittelbare Verfolgung, Honor Killing Bill, interne Fluchtalternative, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Schwangerschaft, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Asylanerkennung für pakistanische Staatsangehörige wegen drohenden "Ehrenmordes".

(Leitsatz der Redaktion)

[...]

Die Beklagte ist verpflichtet, die Klägerin als politisch Verfolgte gem. Art. 16 a Abs. 1 GG anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Die Klägerin ist als politisch Verfolgte aus ihrer Heimat in Pakistan ausgereist und im Falle ihrer Rückkehr dorthin vor Verfolgung nicht hinreichend sicher. Die Klägerin musste im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Pakistan befürchten, von ihrem Bruder aus Gründen der Familienehre umgebracht zu werden. Hiervon ist das Gericht aufgrund des Vorbringens der Klägerin und der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel über die sogenannten Ehrenmorde in Pakistan überzeugt. Zunächst hegt das Gericht keinen Zweifel an der Darlegung der Klägerin, dass sie als unverheiratetes 17-jähriges Mädchen ohne Einverständnis ihrer Eltern eine Woche mit ihrem Freund im Hotel verbracht hat. Hiervon zeugt ihre anschließende Schwangerschaft. Die Misshandlungen und Drohungen durch ihren Bruder hat die Klägerin überzeugend geschildert. Das Verhalten des Bruders entspricht auch der aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel bekannte Übung der sogenannten Ehrenmorde in Pakistan. Nach dem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Pakistan vom 11.03.2005 werden in Pakistan immer wieder Fälle bekannt, in denen Frauen, die angeblich Kontakt zu fremden Männern hatten, von ihren Ehemännern oder Brüder getötet oder schwer verletzt werden; die Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Asma Jihangir aus Lahore hat etwa 500 solcher Tötungsdelikte jährlich registriert, wobei die Dunkelziffer und die Zahl der entstellenden Verletzungen deutlich höher liegt (Gliederungspunkt III 3 d des Lageberichtes). Dies wird vor dem Hintergrund plausibel, dass die Wahrung der Familienehre in den traditionellen muslimischen Gesellschaften des nahen und mittleren Ostens als ein hohes zu schützendes Gut erachtet wird und Verletzungen der Familienehre in solchen Gesellschaften in der Regel von der durch die Ehrverletzung betroffenen Familie zum Zwecke der Wiederherstellung der Familienehre selbst geahndet wird (vgl. Gutachten von Otmar Oehring vom 22.07.2004 für das OVG Hamburg). Die Klägerin musste deshalb jederzeit damit rechnen, aufgrund der ausgesprochenen Drohungen des Bruders getötet oder schwer verletzt zu werden.

Diese der Klägerin drohenden Gefahren knüpften auch an ein asylerhebliches Merkmal, nämlich an ihr Geschlecht an. Derart starken Reglementierungen im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Selbstbestimmung sind Männer in Pakistan nicht ausgesetzt. Sie haben nicht im gleichen Maße derart gravierende und von der Gesellschaft tolerierte Sanktionen zu befürchten, sondern sind nach dem pakistanischen Gesellschaftssystem eindeutig privilegiert, was sich in vielen Bereichen, aber vor allen in diesem Kontext widerspiegelt. So heißt es in dem zitierten Lagebericht des Auswärtigen Amtes unter Gliederungspunkt III 3 d: "Bei der Eheschließung müssen Frauen oft auf ihr Ehescheidungsrecht verzichten. Zwar kann ein Ehemann seiner Frau das Ehescheidungsrecht vertraglich zugestehen, hiervon wird allerdings nur sehr zögerlich Gebrauch gemacht. Polygamie ist nach dem pakistanischen Familiengesetzbuch von 1961 weiterhin möglich. Theoretisch sollte seine erste Frau, die einer zweiten Heirat des Mannes nicht zustimmt, automatisch ihr Mitgift zurückerhalten. In der Praxis trifft sie damit jedoch auf große Schwierigkeiten. Das Scheidungsrecht bevorzugt die Männer, die nach islamischen Recht außergerichtlichen scheiden lassen können und danach nur für drei Monate unterhaltspflichtig sind. Das pakistanische Familienrecht kennt keine spezielle Verpflichtung des Mannes zum Unterhalt von Frau und Kindern. Es gibt kein Straftatbestand der Verletzung der Unterhaltspflicht. Güterrechtlich sind die Frauen ebenfalls schlechter gestellt, da sie bestenfalls ihre Mitgift zurückerhalten, aber am während der Ehe erwirtschafteten Zugewinn nicht partizipieren. Auch das Sorgerecht ist ganz auf den Mann ausgerichtet, der als natürlicher Vormund der Kinder angesehen wird. Die pakistanische Staatsangehörigkeit wird nach derzeitiger Gesetzeslage nur über den Vater erworben. Geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen sind in Pakistan an der Tagesordnung. Korrupte Standesbeamte registrieren Scheinehen, die zum Nachteil der Frauen geschlossen werden. In weiten Kreisen der Bevölkerung werden Frauen nach wie vor gegen ihren Willen, zum Teil schon im Kindesalter verheiratet, teilweise auch gegen Bezahlung. Das Auswärtige Amt ist wiederholt mit Fällen konfrontiert worden, in denen junge deutsche Frauen pakistanischer Herkunft von pakistanischen Familienmitgliedern anlässlich einer Reise nach Pakistan festgehalten wurden, um an einen pakistanischen Ehemann verheiratet zu werden. ... Durch die Islamisierung (Hudood-Verordnung 1979, Qisas und Diyat - Law 1991) des kolonial-westlichen pakistanischen StGB von 1860 hat sich die Lage der Frau verschlechtert. Dies gilt zum Beispiel im Falle der Zahlung einer Kompensation nach der Tötung eines Angehörigen.

Beweislast und Gewichtung von Zeugenaussagen männlicher und weiblicher Zeugen sind zum Nachteil von Frauen ausgelegt. So müssen beispielsweise vier Männer eine Vergewaltigung bezeugen können, damit diese als bewiesen gilt, eine Voraussetzung, die kaum jemals gegeben sein dürfte. Vergewaltigungen werden auch deshalb kaum angezeigt, weil die Frau damit rechnen muss, dass sie wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs verurteilt wird, während der Vergewaltiger in den meisten Fällen straffrei ausgeht. ... Das sogenannte "Zina-Gesetz" stellt den außerehelichen Geschlechtsverkehr generell unter Strafe. Zwischen einem Drittel und der Hälfte aller weiblichen Untersuchungsgefangenen sind wegen des Vorwurfes eines Verstoßes gegen das "Zina-Gesetz" in Haft. Nicht selten handelt es sich um Opfer von Vergewaltigungen, denen im Nachhinein "Ehebruch" unterstellt wird. Statistiken belegen, dass dieses Gesetz vor allem Frauen aus unterprivilegierten Schichten trifft, die oft Opfer von falschen und konstruierten Anklagen werden." Dies zeigt, dass ebenso wie bei der Anwendung des "Zina"- Gesetzes die Praxis der sogenannten Ehrenmorde sich entsprechend der Stellung der Frau in der pakistanischen Gesellschaft vornehmlich gegen Frauen richtet und sie deshalb, wie es auch der Einschätzung des Auswärtigen Amtes im genannten Lagebericht entspricht, geschlechtsspezifisch sind.

Die der Klägerin in Pakistan drohende Tötung oder schwere Körperverletzungen sind dem pakistanischen Staat in asylrechtlich relevanter Weise zurechenbar. Verfolgungen durch Dritte sind dem Herkunftsstaat nicht nur dann zuzurechnen, wenn er zu diesen anregt, sie unterstützt oder billigt, sondern auch dann, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt (BVerfG, B. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - E 80, 315, 336; B. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 - E 83, 216, 235). Dabei darf er sich nicht mit einer bloß oberflächlichen Schutzgewährung begnügen. Umfang und Intensität der schützenden Reaktionen müssen dem Ausmaß der Bedrängnis entsprechen, den der einzelne oder die Gruppe ausgesetzt ist. Je mehr und je heftiger eine betroffene Gruppe schon in der Vergangenheit beeinträchtigt worden ist, desto intensiver hat der staatliche Schutz zu sein (BVerfG, B. v. 23.01.1991 - a. a. O., 235). Der notwendige staatliche Schutz muss hiernach gegenüber rechtswidrigen Übergriffen in hinreichend verlässlicher Weise gewährleistet erscheinen (BVerfG, B. v. 10.11.1989 - 2 BvR 403/84 - E 81, 58, 68). Ein derartiger hinreichender verlässlicher Schutz gegenüber der Praxis der Ehrenmorde kann in Pakistan derzeit (noch) nicht festgestellt werden. Nach dem genannten Lagebericht des Auswärtigen Amtes werden die Täter der Ehrenverbrechen selten zur Verantwortung gezogen und es ergehen lediglich symbolische Geldstrafen oder Freisprüche. Ob die am 26. Oktober 2004 von der Nationalversammlung verabschiedete "Honour Killing Bill", die die sogenannten Ehrentötungen nochmals ausdrücklich unter Strafe stellt, etwas an der bisherigen unzutreffenden Verfolgungspraxis ändern wird, bleibt abzuwarten. Zur Zeit ist jedenfalls ein hinreichender Schutz vor Ehrentötungen durch den pakistanischen Staat nicht gesichert festzustellen.

Bei der Prüfung des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative ist maßgeblich darauf abzustellen, ob der Flüchtling dort in eine ausweglose Lage geraten wäre. Ein Umzug war ihr jedoch als alleinstehende 17-Jährige, die schwanger war und ein Kind erwartete, nicht zumutbar. Eine Existenz wäre ihr dort nicht möglich gewesen. Die Klägerin hätte sich zunächst der Gefahr ausgesetzt, nach der "Zina Ordinance" von 1979 wegen unehelichen Geschlechtsverkehr mit Gefängnisstrafe oder mit dem Tod durch Steinigung bestraft zu werden. Denn dieser Verdacht wäre aufgrund ihrer Schwangerschaft, die ohne den Schutz ihrer Familie öffentlich geworden wäre, aufgekommen. Als 17-Jährige ohne jegliche Ausbildung wäre es ihr zudem nicht möglich gewesen, ihr Existenzminimum zu sichern. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29.05.1996 an das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main ist es in Pakistan für eine alleinstehende Frau, die nicht im Schutz der Familie steht, zwar theoretisch möglich, eine Existenz zu gründen und ihr Existenzminimum zu sichern. Angesichts der sozialen Stigmatisierung alleinstehender Frauen ist dies allerdings nicht einfach und vor allem in ländlichen Gegenden kaum vorstellbar, während es in städtischer Umgebung dagegen eine nicht unerhebliche Zahl von Frauen gibt, die alleine leben. [...]