VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 15.06.2005 - A 1 K 11832/03 - asyl.net: M7318
https://www.asyl.net/rsdb/M7318
Leitsatz:

Nach § 59 Abs. 3 S. 2 AufenthG ist bei einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG in der Abschiebungsandrohung nur dann der Staat zu bezeichen, in den nicht abgeschoben werden darf, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefährdungslage zwingend verboten ist.

 

Schlagwörter: Nigeria, Krankheit, Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsandrohung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 59 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

Nach § 59 Abs. 3 S. 2 AufenthG ist bei einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG in der Abschiebungsandrohung nur dann der Staat zu bezeichen, in den nicht abgeschoben werden darf, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefährdungslage zwingend verboten ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die unter Ziff. 3 des angegriffenen Bescheids getroffene negative Feststellung hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 AuslG erweist sich indessen als rechtswidrig und ist aufzuheben, da sie den Kläger in seinen Rechten verletzt. Er hat nämlich Anspruch auf die hier im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) auszusprechende Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung des Klägers nach Nigeria vorliegen.

Im vorliegenden Fall ist aufgrund der oben dargelegten Atteste davon auszugehen, dass der Kläger an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung leidet, die medikamentös nur sehr schwierig und mit den gängigen Mitteln offenbar nicht ohne das im Extremfall tödliche Risiko einer Leukopenie angestellt werden kann. Wird die Behandlung abgesetzt bzw. nicht regelmäßig mit Laborkontrollen, ärztlichen Untersuchungen und einer psychiatrischen Behandlung engmaschig fortgesetzt, so kann es nach den vorliegenden Attesten jederzeit zu einer akuten Dekompensation mit akuter Suizid- bzw. darüber hinaus sogarzu einer Fremdgefährdung kommen.

Da im Inland unter den Bedingungen einer ordentlich durchgeführten und aktuell korrekt angestellten Medikation eine akute Suizidgefahr nicht vorliegt und eine solche auch im Rahmen einer Abschiebung durch entsprechende ärztliche Begleitung und Medikation ausgeschlossen werden kann, würde sich die Suizidgefahr nur dann realisieren, wenn der Kläger nach einer Abschiebung in Nigeria dort mangels einer entsprechenden Behandlungsmöglichkeit in den ihn selbst dann am Leib und Leben gefährdenden Zustand einer akuten Dekompensation geraten würde. Insofern handelt es sich bei der dann gegebenen Suizidgefahr nicht um ein lediglich inländisches Vollzugshindernis, für dessen Prüfung nicht das im vorliegenden Fall beklagte Bundesamt sondern die mit dem Vollzug des Ausländergesetzes betraute Ausländerbehörde zuständig wäre, sondern um ein zielstaatsbezogenes Hindernis, wie es von § 60 AufenthG vorausgesetzt wird.

Aufgrund der vorliegenden Auskünfte und Unterlagen ist auch davon auszugehen, dass eine Behandlung des Klägers in Nigeria unter den dortigen Verhältnissen nicht möglich ist. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 29.03.2005 zu Nigeria (Stand: Februar 2005) dort unter Ziff. IV 1 gibt es zwar in den nigerianischen Großstädten eine ausreichende medizinische Versorgung durch staatliche oder private Krankenhäuser in denen auch die meisten psychischen bzw. psychischen Krankheiten behandelt werden können. Eine staatliche Heilfürsorge oder auch eine staatliche Krankenversicherung existieren jedoch nicht. Die Patienten müssen ihre Behandlung auch in staatlichen Krankenhäusern selbst bezahlen. Hilfsorganisationen, die für notleidende Patienten die Kosten übernehmen würden, sind nicht bekannt. Aufwendige Behandlungsmethoden sind zwar möglich, können aber vom Großteil der Bevölkerung nicht finanziert werden.

Die in der Rechtsprechung umstrittene Frage, ob der Kläger deshalb, weil er zu der großen Bevölkerungsgruppe der wirtschaftlich minderbemittelten Nigerianer zählt, die sich eine Krankenversorgung nicht leisten können, unter die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG fällt und demzufolge nur im Falle des Vorliegens einer extremen Gefahrenlage einen entsprechenden Abschiebungsschutz zuerkannt bekommen kann, kann hier dahin stehen. Denn selbst bei Anlegen dieses erhöhten Gefahrenmaßstabs, wäre dieser Maßstab hier erfüllt, da im Falle des Abbruchs der medizinischen Behandlung für den Kläger tatsächlich eine Lebensgefährdung, nämlich akute Suizidialität besteht.

Da im vorliegenden Fall mit Blick auf diese extreme Gefährdungslage für den Kläger eine verfassungsrechtlich aus Art. 2 GG gebotene Durchbrechung der in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG geregelten Sperrwirkung erfolgt, handelt es sich in dieser Konstellation um ein tatsächlich zwingendes Abschiebungsverbot, das den in § 60 Abs. 1, 2 , 3 und 5 AufenthG geregelten zwingenden Abschiebungsverbot gleichzustellen ist. Es liegt also hier nicht der ansonsten in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur geregelte Fall eines nicht von vornherein und ausnahmslos zwingenden Aussetzungsgrundes vor (nach § 60 Abs. 7 Satz 1 "soll" zwar regelmäßig bei Vorliegen der Voraussetzungen einer erheblichen Leibes-, Lebensoder Freiheitsgefahr die Abschiebung ausgesetzt werden. D. h. aber im Umkehrschluss, dass es auch durchaus Ausnahmefälle geben kann, in denen es gleichwohl der Ausländerbehörde unbenommen ist, eine Abschiebung trotz Vorliegens solcher Gefahren nicht auszusetzen).

Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die angegriffene Abschiebungsandrohung unter Ziff. 4 des Bescheides als insoweit teilweise rechtswidrig, als damit dem Kläger die Abschiebung nach Nigeria angedroht wurde. Nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist nämlich in der Androhung der Staat ausdrücklich zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Wenn das Bundesamt in der asylverfahrensrechtlichen Abschiebungsandrohung also wie im vorliegenden Fall Nigeria sogar ausdrücklich als den Staat bezeichnet, in den der Kläger abgeschoben werden darf, dann ist diese Zielstaatsbestimmung rechtswidrig und aufzuheben, weil wegen des Vorliegens eines zwingenden Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG der Kläger dorthin eben gerade im Sinne des § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG "nicht abgeschoben werden darf". Anders als noch unter Geltung des früheren § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG bleibt also nach heutiger neuer Rechtslage unter Geltung des § 59 AufenthG die Rechtmäßigkeit einer auf asylverfahrensrechtlicher Grundlage vom Bundesamt erlassenen Abschiebungsandrohung nicht mehr ausnahmslos vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG bzw. heute des § 60 Abs. 7 AufenthG unberührt (vgl. zur generellen Unbeachtlichkeit des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 auch in Fällen eines daraus i.V.m. Art. 2 GG resultierenden zwingenden, d. h. nicht mehr ins Ermessen gestellten Aussetzungsgrundes für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung unter Geltung des früheren § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG: BVerwG, Urt. v. 05.02.2004 - 1 C 7/03 - = DVBl. 2004, 715 = AuAS 2004, 139 = NVwZ-RR 2004, 534). Vielmehr ist neuerdings zu differenzieren, ob tatsächlich ein zwingender Grund vorliegt, wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, nämlich in Fällen einer extremen Gefahr aufgrund zwingender verfassungsrechtlicher Vorgaben aus Art. 2 GG, eine Abschiebung auszusetzen, oder nicht. Anders als nach § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG, der explizit und im Wortlaut abschließend nur in den Fällen der zwingenden Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG, nicht aber im Fall des damals nur im Ermessen der Ausländerbehörde stehenden fakultativen Aussetzungsgrundes nach § 53 Abs. 6 AuslG eine Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung bei entsprechendem Zuwiderlaufen der Zielstaatsbezeichnung statuierte, sieht § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von einer solchen Unterscheidung nach den einzelnen Aussetzungsgründen des § 60 Abs. 1, 2, 3, 5 und 7 AufenthG bewusst ab und ermöglicht es deshalb auch im Falle des § 60 Abs. 7 AufenthG in der Androhung den Staat ausdrücklich negativ zu bezeichnen, in den der Ausländer nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht abgeschoben werden darf. Da § 60 Abs. 7 AufenthG insoweit aber nur

im Regelfall im Rahmen einer Sollvorschrift davon spricht, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen nicht abgeschoben werden soll, eine Abschiebung also mithin nicht generell und zwingend wie etwa nach den § 60 Abs. 1, 2, 3 und 5 AufenthG verbietet, ist in dieser Vorschrift auch kein generelles ,,Verbot der Abschiebung" enthalten, wie es in der gesetzlichen Überschrift des § 60 AufenthG irreführend bezeichnet wird. Vielmehr mag es durchaus Fälle geben, in denen trotz Vorliegen der Voraussetzungen ausnahmsweise abweichend von der für den Regelfall geltenden Sollvorschrift die Ausländerbehörde gleichwohl in den betreffenden Zielstaat abschieben darf. Würde das Bundesamt im Asylverfahren hier durch § 59 A bs. 3 Satz 2 AufenthG gezwungen, regelmäßig bei Bejahung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG eine Abschiebungsandrohung durch entsprechende Zielstaatsbeschränkung einzuschränken, so würde der Ausländerbehörde, die in einem Ausnahmefall von der Sollvorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abweichen und den betreffenden Ausländer tatsächlich in den betreffenden Zielstaat abschieben will, die Vollstreckungsgrundlage einer Androhung der Abschiebung in diesen Zielstaat von vornherein genommen. Das aber wäre vom Ergebnis her mit dem Regelungsgehalt des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vereinbar, der der Ausländerbehörde ja gerade in Ausnahmefällen auch diese Möglichkeit belassen will. Nur in den Fällen also, in denen sich aus dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG zwingend ergibt, dass aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben wegen einer extremen Gefahrenlage eine solche ausnahmsweise Abschiebung durch die Ausländerbehörde von vornherein ausscheidet, ist es gerechtfertigt, dann dementsprechend auch bereits im Rahmen der auf asylverfahrensrechtlicher Grundlage ergehenden Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt dem durch entsprechende Zielstaatseinschränkung Rechnung zu tragen und damit der Ausländerbehörde in der Folge auch die Abschiebemöglichkeit in diesen Zielstaat vollstreckungsrechtlich zu entziehen. Diese Auslegung entspricht auch dem Beschleunigungsgedanken, der das gesamte Asylverfahrensrecht in seinen Bezügen zum Ausländerrecht bestimmt. Auf diese Weise wird bereits im Rahmen der Abschiebungsandrohung des Bundesamtes, also im Rahmen des Asylverfahrens mit einer für die Ausländerbehörde dann bindenden Wirkung (§ 42 Satz 1 AsylVfG) geklärt, dass eine Abschiebung in diesen Staat auch nicht ausnahmsweise zulässig ist. Damit bleibt ein erst im ausländerrechtlichen Verfahren im Rahmen einer Vollstreckung dann etwa entstehender Streit darüber erspart, ob hier die Ausländerbehörde von der asylverfahrensrechtlichen Abschiebungsandrohung ausnahmsweise keinen Gebrauch machen darf. Andernfalls wäre nämlich in einem zusätzlichen, ggf. auch verwaltungsgerichtlichen Verfahren dann erst im Rahmen des Vollzugs durch die Ausländerbehörde zu klären, ob hier diese in Abweichung von der Sollvorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gleichwohl ausnahmsweise abschieben darf oder nicht.