VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 22.08.2005 - 18 K 8648/01.A - asyl.net: M7315
https://www.asyl.net/rsdb/M7315
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Yeziden aus Mosul wegen Verletzung des religiösen Existenzminimums durch nichtstaatliche Verfolgungsakteure im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Verfolgungsbegriff, nichtstaatliche Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, Gruppenverfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, Christen, Mosul, religiöses Existenzminimum, Schutzfähigkeit, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsfrauen, interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Familienabschiebungsschutz, Zuwanderungsgesetz, Gesetzesänderung, Entscheidungszeitpunkt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 6; AsylVfG § 26 Abs. 4
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Yeziden aus Mosul wegen Verletzung des religiösen Existenzminimums durch nichtstaatliche Verfolgungsakteure im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 22.08.2001 ist in dem angefochtenen Umfang rechtmäßig. Die Beigeladenen haben einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. nunmehr § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes.

In § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird nun im Unterschied zum bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG 1990 ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Konvention, BGBl. II 1953, S. 559) Bezug genommen ("In Anwendung des Abkommens ..."). Die Sätze 3 bis 5 des § 60 Abs. 1 AufenthG verdeutlichen, dass der durch das Abkommen vermittelte Schutz innerstaatlich nunmehr auf Fälle von nichtstaatlicher Verfolgung erstreckt worden ist, so dass sich Deutschland insoweit dieser Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union angeschlossen hat (Begründung des Gesetzesentwurfs a.a.O.).

Für den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG gelten demgemäss nicht uneingeschränkt die gleichen Grundsätze wie für die Auslegung des Art. 16 a Abs. 1 GG, weil nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ohne dass es auf die Existenz einer staatlichen Herrschaftsmacht und damit auch auf die von der bisherigen Zurechnungslehre (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 15.96 -, BVerwGE 104, 254, 256 f.; vgl. auch VG Aachen, Urteil vom 28.04.2005 - 5 K 1587/03.A -, zitiert nach Juris) geforderte grundsätzliche Schutzfähigkeit des Staates ankommt. Damit geht der Begriff der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16 a GG hinaus. Dies unterscheidet § 60 Abs. 1 AufenthG von § 51 AuslG 1990.

Nach Auffassung der Kammer können nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgeht.

§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG stimmt in wesentlichen Teilen mit Art. 6 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) überein. Diese Richtlinie wurde am 30.09.2004 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und ist nach Art. 39 am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung in Kraft getreten (ABl. 2004 L Nr. 304, S. 12). Die Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie bei der Anwendung des Aufenthaltsgesetzes ist bereits jetzt im Wege gemeinschaftskonformer Auslegung gefordert. Die Umsetzungsfrist für diese Richtlinie läuft zwar erst am 10.10.2006 ab (Art. 38 Abs. 1). Sie ist aber insoweit teilweise in Gestalt des Aufenthaltsgesetzes in nationales deutsches Recht umgesetzt worden (vgl. VG Köln, Urteil vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A - S. 11 f. des amtli- chen Umdrucks, veröffentlicht in Juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, zitiert nach Juris; a.A. OVG NRW, Urteil vom 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -, zitiert nach Juris).

3. Des Weiteren lässt die Kammer offen, ob die Beigeladenen bei einer Rückkehr in den Irak einer gegen die religiöse Minderheit der Yeziden gerichteten Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 Abs. 1 S. 4 Buchst. c AufenthG) unterliegen würden.

Allerdings hat sich seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein die Situation von Angehörigen religiöser Minderheiten insgesamt spürbar verschlechtert. Von dieser dramatischen Verschlechterung der Situation nicht muslimischer Religionsgemeinschaften sind - neben etwa den Christen - (vgl. hierzu Urteil der Kammer vom 01.07.2005 - 18 7155/01.A - veröffentlicht in Juris) auch die Yeziden im ehemaligen zentralirakischen Gebiet und dort insbesondere in Mossul betroffen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.06.2005; UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, April 2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Update - Die aktuelle Lage, 15.06.2005; Europäisches Zentrum für kurdische Studien (Siamend Hajo & Eva Savelsberg), Gutachten vom 03.11.2004 an VG Köln und vom 02.11.2004 an VG Regensburg; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty international, Gutachten vom 16.08.2005 an VG Köln; Yezidisches Forum, Pressemitteilung vom 30.12.2004).

Zwar garantiert die am 08.03.2004 verabschiedete Übergangsverfassung des Irak unter ausdrücklicher Nennung der islamischen Religion als Staatsreligion prinzipiell die Freiheit der Religionsausübung. Diese Übergangsverfassung bindet allerdings die vom 28.05.2004 eingesetzte, derzeit amtierende irakische Übergangsregierung nur bis zum Inkrafttreten einer neuen, von der irakischen Nationalkonferenz beschlossenen endgültigen Verfassung. Wie die Frage nach der Bedeutung der islamischen Religion und der Sharia im künftigen irakischen Rechts- und Wertesystem letztlich beantwortet werden wird, ist derzeit offen.

Es finden derzeit auch keine gezielten Übergriffe gegen Yeziden durch die irakische Übergangsregierung oder ihr nachgeordnete Stellen statt, wenn man einmal von dem Phänomen der lokal feststellbaren Zusammenarbeit zwischen islamistischen Gruppen und Polizeikräften absieht.

Ungeachtet dessen aber sind Yeziden - ebenso wie Christen - direkte Zielscheibe von Angriffen, die häufig und an der Tagesordnung sind. Die Urheber dieser gezielten und direkten Übergriffe auf die christliche Bevölkerung sind überwiegend islamistische Gruppen. Diese Gruppen bilden keinen national organisierten Widerstand, sondern es handelt sich dabei um eine Reihe von nichtstaatlichen Akteuren, die verschiedenen Gruppen angehören oder auch alleine agieren.

Aufgrund des unzureichenden Zahlenmaterials und der Unmöglichkeit einer genaueren Bezifferung der Übergriffe unter Berücksichtigung einer vorhandenen Dunkelziffer ist es aber problematisch, schon derzeit die für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Yeziden erforderliche Verfolgungsdichte zu bejahen. Die Situation für Yeziden, insbesondere im Großraum Mossul und Bagdad wird zwar in den oben zitierten neueren Erkenntnisquellen als extrem gefährlich bezeichnet und auch die Verfolgungsfurcht jedes einzelnen Yeziden erscheint danach real. Dennoch lässt sich auch bei einer nicht auf rein mathematischen Berechnungen beschränkten Beurteilung die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte (noch) nicht zweifelsfrei bejahen (vgl. verneinend OVG NRW, Beschluss vom 09.06.2004 - 9 A 2225/04.A - und vom 21.02.2005 - 9 A 1121/05.A -, letzter zitiert nach Juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 01.06.2004 - 2 L 27/02 -; VG Göttingen, Urteil vom 05.10.2004 - 2 A 36/04 - und vom 11.01.2005 - 2 A 145/04 -, beide zitiert nach Juris; VG Minden, Urteil vom 21.02.2005 - 1 K 1098/04.A -, zitiert nach Juris).

4. Unabhängig von der Frage einer Gruppenverfolgung der Yeziden sind die Beigeladenen aber individuell aus religiösen Gründen verfolgt, weil sie bei einer Rückkehr nach N. bei Mossul dort asylerheblichen Eingriffen in ihre Religionsfreiheit durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wären.

Nach dem übereinstimmenden Inhalt der vorliegenden Auskunftsquellen sind Yeziden im Großraum Mossul zur Vermeidung von asylerheblichen Übergriffen gezwungen, ihre Religionszugehörigkeit zu verbergen. Sobald Yeziden als solche erkannt werden, besteht für sie in dem genannten Gebiet die erhebliche Gefahr, an Leib und Leben verletzt zu werden. Yezidische Frauen und Mädchen sehen sich genötigt, sich auf der Straße zu verschleiern und traditionellen muslimischen Kleidungsvorschriften zu unterwerfen, yezidische Männer sich einen muslimischen Bart wachsen zu lassen, um ihre Religionszugehörigkeit in der Öffentlichkeit zu verbergen. Um nicht als Yezide erkannt zu werden, vermeiden sie das öffentliche Bekenntnis, wie etwa die Teilnahme am Fest der Versammlung, und halten sich traditionell yezidischen bzw. nicht muslimischen Berufsausübungen fern. Yeziden sind auch gezwungen, ihre Religionszugehörigkeit im engsten nachbarschaftlich kommunikativen Bereich zu verbergen, um nicht in die Gefahr zu geraten, aufgrund von Denunziationen in das Blickfeld islamistischer Gruppen zu geraten (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien (Siamend Hajo & Eva Savelsberg), Gutachten vom 03.11.2004 an VG Köln und vom 02.11.2004 an VG Regensburg; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty international, Gutachten vom 16.08.2005 an VG Köln; Yezidisches Forum, Pressemitteilung vom 30.12.2004).

Dieser Zwang, seine religiöse Identität zu verbergen, stellt einen Eingriff in das religiöse Existenzminimum jedes Einzelnen dar und ist damit asylrechtlich erheblich. Denn es kann einem Glaubenszugehörigen nicht angesonnen werden, seine Religionsausübung oder gar seine Religionszugehörigkeit als solche geheim zu halten, um Repressalien zu entgehen.

Es kommt daher im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die der deutschen Rechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen "forum internum" und "forum externum" der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht und inwieweit diese Unterscheidung unter Berücksichtigung der EU-Qualifikationsrichtlinie noch aufrecht erhalten werden kann (vgl. zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist Urteil der Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A - S. 11 f des amtlichen Umdrucks, a.a.O., m.w.N.).

Vor diesem asylerheblichen Eingriff in ihr religiöses Existenzminimum finden die Beigeladenen auch keinen Schutz durch die irakische Übergangsregierung oder dieser nachgeordnete Stellen. Es entspricht übereinstimmender Auskunftslage, dass irakische staatliche Stellen im ehemaligen Zentralirak weder über die Möglichkeiten effektiver Schutzgewährung verfügen (vgl. hierzu im Einzelnen Urteil der Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A - S. 17 ff des amtlichen Umdrucks, a.a.O., m.w.N.) noch bezogen auf Yeziden und andere religiöse Minderheiten irgendwelche Maßnahmen zur Schutzgewährung ergreifen (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien (Siamend Hajo & Eva Savelsberg), Gutachten vom 03.11.2004 und 07.03.2005 an VG Köln sowie vom 02.11.2004 an VG Regensburg; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty international, Gutachten vom 29.06.2005 und vom 16.08.2005 an VG Köln).

b) Der dargelegten Bedrohung unterliegen die Beigeladenen auch landesweit, weil sie nicht auf das allein in Betracht kommende ehemals autonome Kurdengebiet verwiesen werden können. Auch wenn im kurdischen verwalteten Nordirak die Sicherheitslage insgesamt stabiler und Übergriffe auf Yeziden dort seltener sein mögen, genügt dieses Gebiet bei Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nicht den Anforderungen, die an eine den Asylanspruch ausschließende inländische Fluchtalternative zu stellen sind (vgl. zur Anwendbarkeit der Grundsätze der inländischen Fluchtalternative auf die autonomen Kurdengebiete im Nordirak BVerwG, Urteil vom 08.12.1998 - 9 C 17.98 -, NVwZ 1999, 544; OVG NRW, Urteile vom 05.05.1999 - 9 A 4671/98.A - und vom 08.03.2001 - 9 A 2993/98.A -).

5) Des Weiteren haben die Beigeladenen einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt des Familienabschiebungsschutzes.

Gemäß § 26 Abs. 4 AsylVfG haben Ehegatten und Kinder von Flüchtlingen, bezüglich derer unanfechtbar das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt wurde, unter den Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 und 2 AsylVfG ebenfalls einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

§ 26 Abs. 4 AsylVfG erfasst auch die Fälle, in denen hinsichtlich des Stammberechtigten die Feststellung getroffen wurde, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vorliegen, obwohl diese Vorschrift am 01.01.2005 außer Kraft getreten ist. Denn eine vor dem 01.01.2005 getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bleibt trotz der Rechtsänderung als Verwaltungsakt wirksam. Sie ist nach dem 01.01.2005 als Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG 2004 zu behandeln. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, das Interesse an einem einheitlichen Rechtsstatus innerhalb der Familie zu berücksichtigen und vor dem Hintergrund der Drittstaatenregelung Forderungen nach einem gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status für die engsten Familienangehörigen von Konventionsflüchtlingen Rechnung zu tragen (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom 07.02.2003, S. 109). Inhaltlich werden die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 jedenfalls von § 60 Abs. 1 AufenthG 2004 mitumfasst (vgl. zur Anwendbarkeit des § 73 AsylVfG auf Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990: Urteil der Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A -, veröffentlicht in Juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, zitiert nach Juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 17.01.2005 - 4 K 553/04.A -, zitiert nach Juris).