VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 14.07.2005 - 4 K 743/03 - asyl.net: M7292
https://www.asyl.net/rsdb/M7292
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, Rechtsmittel, Widerspruch, Rechtsmittelausschluss, Ermessensausweisung, Ermessen, Heilung, Übergangsregelung, Entscheidungszeitpunkt, Wiederholungsgefahr, Drogendelikte
Normen: AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; ARB Nr. 1/80 Art. 14; ARB Nr. 1/80 Art. 7; RL 64/221/EWG Art. 8; RL 64/221/EWG Art. 9; RL 2004/38/EG Art. 38 Abs. 2; VwGO § 42 Abs. 2; AGVwGO Art. 6a
Auszüge:

Die im Bescheid vom 24.3.2003 verfügte Ausweisung und die Abschiebungsandrohung sind rechtswidrig und verletzen den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

I. Die gegenwärtige Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Klägers ist § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 14 ARB 1/80. Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. EUGH, Urteil vom 11.11.2004 - C-467/02 - Cetinkaya).

1. Bei Beachtung der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung des Klägers erweist sich die Ausweisungsverfügung vom 24.3.2003 als bereits formell rechtswidrig.

Nach der Rechtsprechung des EUGH gelten die Rechtsschutzgarantien der Artikel 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG auch für türkische Staatsangehörige, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zukommt (vgl. EUGH, Urteil vom 2.6.2005 - C-136/03 -Dörr/Ünal). Dem gegen die Anwendbarkeit der Richtlinie vorgebrachten Einwand des Regierungspräsidiums Tübingen - Bezirksstelle für Asyl -, dass die Bestimmung wegen der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 überholt und daher nicht anzuwenden sei, vermag das Gericht wegen der anders lautenden Übergangsregelungen in Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG nicht zu folgen. Nach diesen Regelungen wird die Richtlinie 64/221/EWG erst zum 30.4.2006 und nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben.

Nach Art. 9 der danach im vorliegenden Fall anzuwendenden Richtlinie 64/221/EWG trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann, sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.

a.) Das nach nationalem Recht gegen die Ausweisungsverfügung gegebene Rechtsmittel betrifft nach §§ 42 Abs. 2 und 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO "nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung", so dass die - vorherige - Einschaltung einer unabhängigen Stelle erforderlich ist. Auszulegen war der von der Richtlinie 64/221/EWG verwendete unbestimmte Rechtsbegriff "Gesetzmäßigkeit" der Entscheidung.

b.) Von der danach erforderlichen - vorherigen - Einschaltung einer zuständigen Stelle konnte im vorliegenden Fall auch nicht ausnahmsweise abgesehen werden. Die - vorherige - Einschaltung einer "zuständigen Stelle" kann nur "in dringenden Fällen" unterbleiben (vgl. Art 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG). Ein dringender Fall lag beim Kläger zum insofern maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung am 24.3.2003 nicht vor. Zur Begründung kann auf die den Beteiligten bekannten Ausführungen im Eilbeschluss vom 5.11.2003 im Verfahren - 4 K 744/03 - verwiesen werden, wonach ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisungsentscheidung beim Kläger nicht festgestellt werden konnte. Wegen des gleichen Prüfungsmaßstabs rechtfertigt die Annahme des Fehlens eines gegenwärtigen, besonderen Sofortvollzugsinteresses an der Ausweisung grundsätzlich die gleichzeitige Annahme des Fehlens eines "dringenden Falls" (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 14.6.2005 - 4 K 17/05 -).

c.) Der Verfahrensfehler ist auch beachtlich und führt daher zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsentscheidung. Eine nachträgliche Heilung kommt nicht in Betracht (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG Bad.-Württ.). Weder wurde die fehlende Beteiligung der unabhängigen Stelle durch eine behördliche Entscheidung nachgeholt noch kann das gegen die Ausweisungsentscheidung durchgeführte Klagverfahren eine Heilung bewirken.

2. Die Ausweisungsentscheidung ist aber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht rechtswidrig.

Dabei sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt, nachdem durch die Straftaten nicht nur vereinzelte oder geringfügige Verstöße gegen die Rechtsordnung vorliegen. Das Ausweisungsermessen ist danach eröffnet.

Der Kläger kann sich - wie oben ausgeführt - als türkischer Staatsangehöriger auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen. Dies hat zur Folge, dass zu seinen Gunsten von veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen (vgl. hierzu: EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - C-482/01 - Orfanopoulos/Oliveri) an eine Ausweisung auszugehen ist. Zwar bezieht sich diese Entscheidung des EuGH auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger, sie ist jedoch hinsichtlich ihrer materiellen Grundsätze auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen. Der Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 beruht auf dem "Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei" aus dem Jahr 1963, das der EuGH als integrierenden Bestandteil der Gemeinschaftsordnung ansieht. Die Gleichstellung türkischer Staatsangehöriger mit EU-Angehörigen ergibt sich zum einen aus dem Zweck des ARB 1/80 sowie aus der Tatsache, dass der Vorbehalt in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Regelung in Art. 39 Abs. 3 EG entspricht. Daher ist abzuleiten, dass die im Rahmen der Art. 39 ff EG geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, welche die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen (EuGH, Urteil vom 10.2.2000, C-340/97, Nazli, und Urteil vom 11.11.2004, C-467/02, Cetinkaya). Aus dieser Gleichstellung kombiniert mit der Entscheidung des EuGH vom 29.4.2004 (Orfanopoulos/Oliveri) ergeben sich für türkische Staatsangehörige, die die Rechte aus dem ARB 1/80 besitzen, mehrere rechtliche Folgerungen (vgl. auch: BVerwG, Urteile vom 3.8.2004 - BVerwG 1 C 30.02 - und - BVerwG 1 C 29.02 -): ...

Damit setzt die Ausweisung eines assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen das Vorliegen einer konkreten Wiederholungsgefahr im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts voraus. Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ist nur erfüllt, wenn eine Prognoseentscheidung ergibt, dass der Betroffene durch sein Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet (EuGH, Urteil vom 11.11.2004 - C-467/02 - Cetinkaya, Absätze 36 ff.). Dies ist dann der Fall, wenn beim Betroffenen weitere schwere Straftaten zu erwarten sind, die im Hinblick auf das berechtigte Interesse des Mitgliedstaates am Schutz der öffentlichen Sicherheit nicht mehr hinnehmbar sind und die auch bei Berücksichtigung der persönlichen Belange des Betroffenen seine Entfernung aus dem Mitgliedstaat rechtfertigen.

Die gerichtliche Gefahrenprognose ergibt, dass beim Kläger gegenwärtig keine qualifizierte Wiederholungsgefahr besteht. Die von der Behörde erkannte, vom Kläger weiterhin ausgehende theoretische Gefahr, reicht hierfür nicht aus. Sie beschränkt sich auf die allgemeine Rückfallgefahr, die bei jedem ehemals Drogensüchtigen besteht und die auch durch Entgiftung und Entwöhnung nicht völlig beseitigt wird.

Wird auf den maßgeblichen Gesamteindruck abgestellt, hält die Gefahrenprognose des Beklagten der gerichtlichen Überprüfung nicht Stand. Bei der Gesamtwürdigung sind folgende Punkte zu berücksichtigen: ...