VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 23.08.2005 - A 11 K 10918/05 - asyl.net: M7145
https://www.asyl.net/rsdb/M7145
Leitsatz:

Gruppenverfolgung von tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien; keine inländische Fluchtalternative in Russland wegen Verweigerung der Registrierung, die zudem Verfolgung wegen der Volkszugehörigkeit darstellt.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Krasnador, Stawropol, Freizügigkeit, Registrierung, Moskau, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Gruppenverfolgung von tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien; keine inländische Fluchtalternative in Russland wegen Verweigerung der Registrierung, die zudem Verfolgung wegen der Volkszugehörigkeit darstellt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 08.06.2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Dementsprechend war der Bescheid des Bundesamtes aufzuheben und die Beklagte zu einer entsprechenden Feststellung zu verpflichten.

Nach der Überzeugung des Gerichts gab es zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers Ende Januar 2004 eine staatlicherseits betriebene oder geduldete gruppengerichtete Verfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien (so OVG Bremen, Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 116/03.A - für den Ausreisezeitpunkt Ende März 2001; offen gelassen in OVG NW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03. A - u. Bay.VGH, Urt. v. 31.01.2005; vgl. zur Gruppenverfolgung z.B., BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200 ff. = InfAuslR 1994, 1409 ff. = NVwZ 1995, 175 ff. m.w.N.; zu Tschetschenien: ablehnend OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 4 A 312/00 - m.w.N. im September 1999; offen gelassen Niedersächs. OVG, Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -, AuAS 2004, 2002 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -, AuAS 2003, 202 ff.).

Die Kriegsführung der russischen Seite im zweiten Tschetschenienkrieg und die in der Folgezeit bis zur Ausreise des Klägers Ende Januar 2004 geschehenen Maßnahmen und Übergriffe der in Tschetschenien stationierten russischen Streitkräfte sowie der prorussischen tschetschenischen Sicherheitskräfte unter Kadyrow bzw. dessen Sohn Ramsan Kadyrow sind zur Überzeugung des Gerichts in ihrer Rücksichtslosigkeit und Brutalität gegenüber der betroffenen tschetschenischen Zivilbevölkerung als Gruppenverfolgung zu bewerten.

Hiernach existiert eine Vielzahl von Verfolgungsmaßnahmen, die auch in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich an die tschetschenische Volkszugehörigkeit geschahen. (vgl. zu den Voraussetzungen politischer Verfolgung bei der Abwehr terroristischer Angriffe, BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, a.a.O., 315, 317; 81, 142, 149, 152). Die Zahl der feststellbaren Verfolgungsfälle reicht in ihrer Dichte aus, um die hohen Anforderungen der Rechtsprechung an eine staatliche Gruppenverfolgung anzunehmen.

Auf eine inländische Fluchtalternative in den restlichen Gebieten der Russischen Föderation kann der Kläger nicht verwiesen werden. Ihm droht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens ebenfalls mit hinreichender Sicherheit politische Verfolgung (§ 60 Abs. 1 AufenthG), nämlich durch die in seinem Fall zu erwartende Verweigerung der Registrierung außerhalb Tschetscheniens und deren Folgen (vgl. zur inländischen Fluchtalternative BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, a.a.O., 315 ff., 342, 343 ff.; BVerwG, Beschl. v. 16.06.2000, Buchholz 402.240 § 51 AuslG Nr. 43 m.w.N.; zu Tschetschenien: bejahend OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 4 A 312/00 - m.w.N.; Niedersächs. OVG, Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -, AuAS 2004, 2002 ff.; verneinend VG Düsseldorf, Urt. v. 19.05.2003 - 25 K 7112/01.A -; VG Karlsruhe, Urt. v. 06.02.2004 - A 11 K 10284/02 zu Tschetschenen aus Kabardino-Balkarien; differenzierend VG Karlsruhe, Urt. v. 22.10.2002 - A 11 K 11512/01 - u. VG Braunschweig, Urt v. 24.07.2002 - 8 A 98/02 -; BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 166; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.04.2002, ESVGH 52, 191). Bei der Prognose, ob dem Ausländer bei seiner Rückkehr in den Heimatstaat politische Verfolgung droht, ist das Staatsgebiet in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen (BVerwG, Urt. v. 05.10.1999 - 9 C 31/99 -, InfAuslR 2000, 99 ff. = NVwZ 2000, 332), also die gesamte Russische Föderation.

Inguschetien bot für den Kläger bei seiner Ausreise keine inländische Fluchtalternative, eine Rückkehr dorthin ist auch derzeit nicht zumutbar. Tschetschenen konnten ab Mitte 2002 nicht mehr nach Inguschetien ausweichen, weil sich der Druck auf die Flüchtlinge in den - ohnehin nach Ansicht des UNHCR nicht den Grundbedürfnissen entsprechenden - Notunterkünften in Inguschetien zunehmend verschärfte. In der Folge des Machtwechsels in Inguschetien, dem seit Ende April 2002 der FSB-Generalmajor Murat Sjasikow als Präsident vorsteht, kam es zu einer veränderten Flüchtlingspolitik Inguschetiens bezüglich der tschetschenischen Flüchtlinge. Am 29.05.2002 wurde eine politische Vereinbarung unterzeichnet, nach der alle tschetschenischen Binnenflüchtlinge bis Ende September 2002 wieder nach Tschetschenien zurückkehren und die Flüchtlingslager in Inguschetien aufgelöst werden sollten. Die meisten Flüchtlinge lehnten dies ab. In der Folgezeit kam es zur Auflösung von Flüchtlingslagern in Inguschetien im Dezember 2002 und im September und Dezember 2003.

In Kabardino-Balkarien sowie in den Regionen Krasnodar und Stawropol ist ebenfalls nicht hinreichend gewährleistet, dass der Kläger dort einen legalen Aufenthalt begründen kann. Tschetschenen steht zwar wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des zeitweiligen Aufenthalts in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird in der Praxis an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie z.B. Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften sehr stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen.

Aufgrund der restriktiven Vergabepraxis von Aufenthaltsgenehmigungen haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. In seinem Sonderbericht vom Oktober 2000 kritisierte der Ombudsmann der Russischen Föderation die regionalen Vorschriften, die im Widerspruch zu den nationalen Vorschriften stehen, sowie rechtswidrige Vollzugspraktiken. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen, besonders in Moskau, häufig die Registrierung verweigert wird. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und diejenige am Wohnort. Sie ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen oder Zugang zum kostenlosen Gesundheitssystem (AA, Ad hoc-Bericht v. 13.12.2004. S. 13 f. u. v. 16.02.2004, S. 18 f. u. v. 27.11.2002 S. 14; so bereits UNHCR v. Januar 2002) und für den Arbeitsplatz (vgl. IGFM v. 20.12.2000 an VG Schleswig-Holstein; vgl. im Übrigen GfbV v. 02.10.2002 an VGH Mannheim u. München). Kabardino-Balkarien steht wegen Verstößen gegen die Verfassung und gegen die Vorschriften der Föderation über die Freizügigkeit und die Wahl des Aufenthalts- und Wohnorts der Bürger regelmäßig im Visier des Ombudsmans der Russischen Föderation (Stellungnahme des UNHCR v. Januar 2002 u. v. 29.10.2003 an Bay.VGH; Memorial, a.a.O., v. Mai 2004, S. 34 ff.). In der Region Krasnador gibt es ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten, eine Registrierung des Wohn- oder Aufenthaltsorts zu erreichen (UNHCR v. Januar 2002 u. v. Februar 2003).

Auch in den übrigen Teilen der Russischen Föderation kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Kläger eine Registrierung findet und ohne registriert zu sein, nicht in eine ausweglose Lage gerät.

Die Verweigerung der zeitweisen oder dauerhaften Registrierung ist eine zielgerichtete Maßnahme in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale - der tschetschenischen Volkszugehörigkeit -, die dem russischen Staat zurechenbar ist (so bereits VG Karlsruhe Urt. v. 10.03.2004 - A 11 K 12494/03 (rkr.) u. A 11 K 12230/03 (rkr.) -; vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, a.a.O., 335 m.w.N. u. Hess VGH, Urt. v. 19.11.2002 - 5 UE 4670/96 A - u. v. 30.05.2003 - 3 UE 858/02 A - m.w.N).

Die in der Rechtsprechung von tschetschenischen Volkszugehörigen geforderten erheblichen Anstrengungen bei der Beschaffung der Registrierung bis hin zur Anrufung der Gerichte können, wie der Bayrische VGH (Urt. v. 31.01.2005, a.a.O.,) zu Recht einräumt, nur dann gefordert werden, wenn der Betroffene hierdurch nicht in eine "ausweglose" Lage gerät. Im Regelfall ist dies vorprogrammiert, wenn dem Betroffenen die notwendigen finanziellen Reserven für einen Aufenthalt ohne Registrierung oder hilfreiche Kontakte fehlen. Davon, dass für das Ausbleiben einer Registrierung in vielen Fällen die mangelnde Bereitschaft von Tschetschenen ursächlich ist (Bay VGH, a.a.O., S. 23), ist das Gericht aufgrund gegenteiliger Bekundungen tschetschenischer Volkszugehöriger in vielen Asylverfahren nicht überzeugt. Im Gegenteil, bereits vor Jahren berichteten tschetschenische Volkszugehörige unter Angabe vieler Details, wie sie sich erfolglos um eine Registrierung in Stawropol bemüht haben.