VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 26.07.2005 - M 3 K 05.50752 - asyl.net: M7102
https://www.asyl.net/rsdb/M7102
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungssicherheit, Sicherheitslage, Kriminalität, Wegfall-der-Umstände-Klausel
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1; GFK Art. 1 C 5; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 2
Auszüge:

Die Anerkennung als Asylberechtiger und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Vorschrift ist unterschiedslos anwendbar, ob der zu widerrufende Bescheid rechtmäßig oder rechtswidrig war (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08. 2004 - 1 C 22/03 - NVwZ 2005, 89 f.). Bei der Beurteilung der für den Widerruf maßgeblichen Fragestellung, ob die Gefahr von Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht, ist ein strenger Prognosemaßstab anzulegen. Der Widerruftatbestand ist nur erfüllt, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Welche Anforderungen insoweit zu stellen sind, bestimmt sich wesentlich nach der Begriffsbestimmung in Art. 1 C 5 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wortgleich mit Art. 11 Abs. 1 e der künftig zu beachtenden Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie). Zwar beinhalten weder Genfer Flüchtlingskonvention noch Qualifikationsrichtlinie normativ wirkende Regelungen über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft; der materielle Gehalt des Art. 1 C 5 GFK ist aber dennoch bei der Auslegung von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu beachten (vgl. BT-Drucksache 9/895, Seite 18 zur Vorgängerregelung des § 11 Abs. 1 AsylVfG 1982). Dies gilt nach heutigem Recht insbesondere deshalb, weil § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) Bezug nimmt und dort - anders als noch in § 51 Abs. 1 AuslG 1990 - ausdrücklich auf die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention abgehoben wird.

Der gebotene Rückgriff auf die Genfer Flüchtlingskonvention hat zur Folge, dass ein Widerruf nur zulässig ist, wenn die Umstände weggefallen sind, aufgrund deren eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist (Art. 1 C 5 GFK). Als Auslegungshilfe ist insoweit bereits jetzt die bis 10. Oktober 2006 umzusetzende Qualifikationsrichtlinie (vgl. deren Art. 38) heranzuziehen (dazu BGHZ 138, 55 ff.). Hiernach ist zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann (Art. 11 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie). Hinzu kommen muss nach Art. 1 C 5 GFK (ebenso Art. 11 Abs. 1 e Qualifikationsrichtlinie), dass der Flüchtling es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz seines Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, ihm also die Rückkehr zumutbar sein muss.

Ausschlaggebend ist demnach für die Zulässigkeit einer Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ob die Veränderungen im Herkunftsstaat dergestalt grundlegend, stabil und dauerhaft sind, dass dem Flüchtling eine Rückkehr zumutbar ist. Eine bloß vorübergehende Veränderung der Umstände oder nicht vorhersehbare Entwicklungen im Heimatland reichen für eine Widerrufsentscheidung nicht aus (vgl. Reinhard Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 2005, Seite 218 ff.; UNHCR, NVwZ-Beilage 2003, 57 ff.; zum Kriterium der Zumutbarkeit im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG; BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162 ff.; weitere Rechtsprechungsnachweise: VGH Baden-Württemberg, B. v. 16.3.2004, NVwZ-RR 2004, 790 f).

Eine in diesem Sinne gefestigte Situation, welche eine Rückkehr in den Irak zumutbar erscheinen lässt, besteht dort zurzeit nicht. Zwar hat der am 6. April 2005 gewählte Staatspräsident Talabani gleich nach seiner Wahl erklärt, er werde sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen, der die Freiheit für alle garantiere und der dem Terrorismus, der Korruption und dem rassistischem Gedankengut ihre Wurzeln entziehe. Des weiteren sprach er sich für einen Dialog mit den Aufständischen aus (SZ vom 07.04.2005, Seite 9). Jedoch sind terroristische Anschläge im Irak an der Tagesordnung, wobei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die Lage seit Beendigung der Hauptkampfhandlungen Anfang Mai 2003 äußerst unsicher geblieben ist, sich in den letzten sechs Monaten weiter verschlechtert hat und in dieser Zeit weiterhin von einem hohen und zunehmenden Gewaltniveau geprägt war (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 10.06.2005, Stand: Mai 2005, Seite 4, 6, 11). Ziel solcher Anschläge sind irakische Regierungsorgane und Koalitionstruppen, aber auch alle Einrichtungen und Personen, die mit der irakischen Regierung zusammen arbeiten oder dessen verdächtigt werden. Dabei werden neben Mitgliedern der Regierung und Mitarbeitern bei ausländischen Organisationen und Firmen auch Angehörige der irakischen Streitkräfte und Polizei ins Visier genommen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.; Deutsches Orient-Institut - DOI - vom 31.01.2005 zu Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger mit christlicher Religionszugehörigkeit). Von Anschlägen betroffen sind Christen, Schiiten und Sunniten (SZ vom 01.03., 23.02., 21.02., 14.02. und 04.05.2005 sowie Auswärtiges Amt, a.a.O.). Den genannten Informationsquellen ist weiter zu entnehmen, dass gleichzeitig die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und teils außer Kontrolle geraten ist. Auf diesem Hintergrund der vom UNHCR (Stellungnahme vom April 2005) erwähnten Hinwendung der Bevölkerung zu islamischen Traditionen hat sich die Situation für Angehörige der christlichen, jüdischen und mandäischen Religionsgemeinschaften nach dem Sturz des ehemaligen Regimes spürbar verschärft. Auch Frauen geraten zunehmend unter Druck, sich traditionellen Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften anzupassen (Auswärtiges Amt, a.a.O.). Insgesamt hat die angespannte Sicherheitslage insgesamt "einen ausgesprochen negativen Einfluss auf die allgemeine Menschenrechtslage" (Auswärtiges Amt, a.a.O.). Der Chef des VN-Menschenrechtsbüros für Irak, John Pace, bezeichnete laut Auswärtigem Amt die Lage als "komplex, negativ und sehr besorgniserregend, da der normale Bürger wenig, wenn nicht gar keinen Schutz durch den Staat genießt" (zitiert aus Auswärtiges Amt, a.a.O., Seite 17). Des weiteren melden sich derzeit irakische Stimmen zu Wort, wonach es derzeit im Irak eine sogenannte "Widerstandsregierung" gebe, die vom gestürzten Regime sämtliche von Saddam Hussein errichtete Strukturen aus Geheimdienstoffizieren, militärischen Führungsstäben der Saddam-Fedajin und der republikanischen Garde übernommen habe, und zwar einschließlich deren Waffen (SZ vom 18.06.2005). Das tägliche Morden habe die Dimension einer "Massenvernichtung" angenommen, der Irak steuere auf einen „Völkermord“ zu (Der Spiegel v. 25.7.2005, S. 88).

Nach diesem Stand der Erkenntnisse kann derzeit im Irak jeder das Opfer von Übergriffen werden. Unklar ist jedoch, wer dort wem aus welchen Gründen nachstellt. Es kann nach den vorstehenden Ausführungen auch nicht ausgeschlossen werden, dass irakische Staatsangehörige, die sich im Ausland als Gegner des alten Regimes ausgegeben haben, im Falle der Rückkehr in ihre Heimat Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Die insgesamt politische unüberschaubare und äußerst instabile sicherheitsrechtliche Lage im Irak mit derzeitiger Tendenz zur Verschlechterung ist nach obigen Rechtsausführungen keine tragfähige Grundlage für eine Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.