VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 07.09.2005 - 7 UE 1821/05.A - asyl.net: M7086
https://www.asyl.net/rsdb/M7086
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Albaner, Kosovo, Widerruf, Konventionsflüchtlinge, Ermessen, Zuwanderungsgesetz, Entscheidungszeitpunkt, Vertrauensschutz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AsylVfG § 77 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Widerrufsbescheid der Beklagten ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der Widerruf nicht innerhalb der Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2a AsylVfG ergangen ist bzw. nach Ermessen zu treffen gewesen wäre (im Ergebnis ebenso: Hess. VGH, B. v. 10.05.2005 - 7 UZ 810/05.A -; Bayerischer VGH, B. v. 17.02.2005 - 21 ZB 05.30260 -; Niedersächsisches OVG, B. v. 11.04.2005 - 8 LA 33/05 -; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 14.04.2005 - 13 A 654/05.A -).

1. Unabhängig von der Frage, ob § 77 Abs. 1 AsylVfG die Anwendung des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf Verfahren der vorliegenden Art gebietet, wäre der Widerrufsbescheid nicht bereits deshalb aufzuheben, weil ihm durch die Nichtanwendung der Vorschrift ein Rechtsfehler anhaftet, sondern nur dann, wenn der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt werden würde (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies ist nicht ersichtlich.

Mit der Einführung der in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG normierten obligatorischen Prüfungspflicht drei Jahre nach der Unanfechtbarkeit der Entscheidung hat der Gesetzgeber die Struktur der Widerrufsverpflichtung bei Vorliegen der Widerrufsgründe nach Abs. 1 nicht verändert, sondern lediglich effektiver gestaltet. Nach der Intention des Gesetzgebers, der mit den Maßnahmen ausdrücklich eine Beschleunigung der Asylverfahren erreichen wollte (amtl. Begründung, BT-Drs. 15/420, S. 107), soll nämlich mit der Einführung einer obligatorischen Prüfungspflicht spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach einer anerkennenden Entscheidung des Bundesamts erreicht werden, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang weitgehend leergelaufen sind, an Bedeutung gewinnen. Das Ergebnis der Prüfung ist der Ausländerbehörde mitzuteilen, damit diese über den Aufenthaltstitel befinden kann (amtl. Begründung, BT-Drs. 15/420, S. 112). Somit dient diese Neuregelung nach der ausdrücklichen gesetzgeberischen Intention dem öffentlichen Interesse an einer Überprüfung der Schutzbedürftigkeit des Asylberechtigten oder des Ausländers, bei dem das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt hat: Damit steht die Prüfungspflicht nicht im Interesse des einzelnen Ausländers als Adressaten der Widerrufsentscheidung. Sie steht vielmehr, wie das Unverzüglichkeitsmerkmal in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ausschließlich im öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung einer dem Asylberechtigten nicht mehr zustehenden Rechtsposition. Bereits in seiner Entscheidung vom 27.06.1997 (BVerwG 9 B 280.97 -, NVwZ-RR, 1997, 741 f.) hat das BVerwG hierzu dargelegt, dass ein Verstoß gegen das gesetzliche Gebot, über den Widerruf der Asylanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG unverzüglich zu entscheiden, den Widerrufsbescheid nicht rechtswidrig macht. Ein als asylberechtigt Anerkannter werde nicht dadurch in seinen Rechten verletzt, dass das Bundesamt einen ansonsten berechtigten Widerruf nicht unverzüglich ausspricht. Denn die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf sei dem Bundesamt nicht im Interesse des einzelnen Ausländers als Adressaten des Widerrufsbescheides, sondern ausschließlich im öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Beseitigung der ihm nicht (mehr) zustehenden Rechtsposition des anerkannten Asylberechtigten auferlegt. Angesichts der gesetzlichen Verpflichtung der Behörde zum Widerruf soll die bei Fehlen der Verfolgungsgefahr nicht länger gerechtfertigte Asylberechtigung im Interesse der alsbaldigen Entlastung der Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat unverzüglich beseitigt werden. Nichts anderes kann für die am 01.01.2005 in Kraft getretene Dreijahresfrist gelten (so auch VG Münster, U. v. 18.01.2005 - 4 K 1794/02.A -;. VG Braunschweig, U. v. 17.02.2005 - 6 A 524/04 -; a.A. VG Köln, U. v. 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A, AuAS 2005, 14 f.), denn mit ihr wollte der Gesetzgeber erkennbar diesen Zweck des Widerrufsverfahrens nicht suspendieren, sondern effektivieren.

Dass die Regelung der Dreijahresfrist nicht dem subjektiven Interesse des Asylberechtigten dienen soll, sondern als reine Ordnungsvorschrift anzusehen ist, ergibt sich auch daraus, dass sie keine Definition des Begriffs der Unverzüglichkeit in § 73 Abs. 1 AsylVfG im Sinne einer Höchstfrist für die Zulässigkeit eines Widerrufs darstellt. Mit ihr sollte lediglich formal eine zeitliche Komponente in das Verfahren des Widerrufs eingeführt werden, um das Bundesamt, unabhängig davon, ob bis dahin konkrete Anhaltspunkte für veränderte Umstände und damit für eine Widerrufspflicht ersichtlich geworden sind, zu einer generellen Prüfung anzuhalten, zu der es auch zuvor bereits verpflichtet war, aber eben ohne eine zeitlich genau bemessene Vorgabe. § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG schreibt insoweit auch nur die Vornahme einer solchen Prüfung vor. Dass mit ihrem Abschluss der Widerruf gegebenenfalls sofort zu erfolgen hat, ist gerade nicht zwingend. Wann unter Umständen der Widerruf tatsächlich erfolgt, wird weiterhin durch das unverändert gebliebene Unverzüglichkeitsgebot des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG geregelt (so insbesondere Bayerischer VGH, B. v. 17.02.2005 - 21 ZB 05.30260 -).

Auch § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG, wonach im Anschluss an die fristgebundene Prüfungspflicht eine spätere Widerrufsentscheidung im Ermessen des Bundesamtes steht, ändert am Charakter der Regelung der Dreijahresfrist als reine Ordnungsvorschrift nichts, da sie die Prüfungspflicht inhaltlich nicht modifiziert. Das Bundesamt ist auch nach Ablauf der Frist weiterhin nach § 73 Abs. 1 AsylVfG verpflichtet zu prüfen, ob der einst gewährte Status nach Art. 16 a Abs. 1 GG oder § 60 Abs. 1 AufenthG noch zu Recht besteht. Die später nur noch nach Ermessen zu treffende Entscheidung ist auch nicht Folge der Einführung einer fristgebundenen Erstprüfung. Sie war zur Harmonisierung der geänderten ausländerrechtlichen Folgerungen geboten, was sich auch aus der weiteren Regelung in § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG erschließt.

2. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gebietet auch § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, wonach das Gericht für die Entscheidung grundsätzlich auf die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat, nicht die Anwendung des § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG. Dies ergibt sich sowohl aus der Gesetzessystematik als auch aus dem Zweck der Regelung.

Die Regelung in § 73 Abs. 2a Satz 2 und 3 AsylVfG war nämlich geboten, um der mit dem Aufenthaltsgesetz veranlassten grundlegenden Änderung der Aufenthaltstitel - nämlich der stets befristet zu erteilenden Aufenthaltserlaubnis und der unbefristeten Niederlassungserlaubnis - Rechnung zu tragen. Die Einfügung des Abs. 2a Satz 3 in den im Übrigen inhaltlich unverändert gebliebenen § 73 AsylVfG diente damit neben dem öffentlichen Interesse auch ausländerrechtlichen Zwecken, um an der Nahtstelle zwischen asylrechtlicher Statusgewährung und ihrer aufenthaltsrechtlichen Behandlung die notwendigen verfahrensrechtlichen Anpassungen zu erreichen, da mit Art. 3 Nr. 43 des Zuwanderungsgesetzes vom 30.07.2004 die §§ 68 bis 70 AsylVfG, die den Aufenthalt nach Abschluss des Asylverfahrens regelten, aufgehoben wurden und nun ein entsprechender Anspruch ausschließlich in §§ 25 Abs. 1 und Abs. 2, 26 Abs. 3 AufenthG geregelt ist. Da einem ab dem 01.01.2005 anerkannten Asylberechtigten nunmehr keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis mehr erteilt werden kann, bedurfte es zur Erlangung einer vergleichbaren Rechtsstellung nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes einer verfahrensrechtlichen Zwischenprüfung durch das Bundesamt. Erst nach erfolgter negativer Prüfungsentscheidung und Mitteilung an die Ausländerbehörde, wie sie in § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG vorgesehen ist, ist ihm eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Die Überleitung ausländerrechtlicher Ansprüche in das AufenthG und der erkennbare Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG verdeutlichen, dass es sich bei der Prüfungs- und Mitteilungspflicht des § 73 Abs. 2a Satz 1 und 2 AsylVfG, an die die nach § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG zu treffende Ermessensentscheidung anknüpft, um einen zukunftsgerichteten Auftrag an das Bundesamt handelt (OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 14.04.2005 - 13 A 654/05.A - zit. n. juris). Denn die ausländerrechtliche Zweckrichtung der Prüfungspflicht kann erst mit In-Kraft-Treten der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen der §§ 25 Abs. 1 und 2, 26 Abs. 3 AufenthG verfolgt werden, da zuvor der von ihr umfasste Personenkreis einen Anspruch auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ausschließlich aus dem AsylVfG selbst ableiten konnte. Einem anerkannten Asylbewerber steht mit der Neuregelung durch das AufenthG erst nach einer Übergangszeit von drei Jahren ein verfestigter Aufenthaltstitel in Form einer Niederlassungserlaubnis zu, während er nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden AuslG bereits mit der unanfechtbaren Asylanerkennung eine - vergleichbare - unbefristete Aufenthaltserlaubnis erwarb.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist zwar für eine gerichtliche Entscheidung das zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende neue Recht maßgeblich. Dies besagt aber nicht, dass diesem bezüglich neu eingeführter Fristbestimmungen samt daran anknüpfenden Pflichten eine Rückwirkung über den Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens hinaus zuzumessen wäre (so auch Bayerischer VGH, B. v. 25.04.2005 - 21 ZB 05.30260 -).

3. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts können an die fehlende Prüfungspflicht für sog. Altfälle keine materiell-rechtlichen Folgen für den Asylbewerber zu Lasten des Bundesamts geknüpft werden. Die Prüfungspflicht des Bundesamtes nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG beginnt erst ab dem 01.01.2005. Diese Verpflichtung trifft in diesem Zeitpunkt auf die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen und noch nicht unanfechtbaren Widerrufsentscheidungen; die neu geschaffene Prüfungspflicht und das Ergebnis der zuvor erfolgten Prüfung - hier des Widerrufs - fallen mithin zeitlich zusammen. Eine (spätere) Ermessensentscheidung wird vom Bundesamt aber erst dann gefordert, wenn das Ergebnis der Prüfung nicht zu einem Widerruf geführt hat. Ein solches Ergebnis liegt im Fall des Klägers gerade nicht vor. Würde § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG auf diese Fälle Anwendung finden, geschähe dies contra legem (ähnlich Niedersächsisches OVG, B. 11.04.2005 - 8 LA 33/05-).

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts gebietet auch eine Abwägung der beteiligten Interessen für "Übergangsfälle" keine Auslegung des § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG über seinen klaren Wortlaut hinaus, nur weil eine die Rückwirkung rechtfertigende Übergangsvorschrift nicht vorhanden ist - §§ 87 Abs. 1, 87a, 87b AsylVfG enthalten keine entsprechenden Regelungen -. Dieser hätte es aber nach verfahrensrechtlichen Prinzipien bedurft. Neues Verfahrensrecht erstreckt sich grundsätzlich nicht mehr auf abgeschlossene Verfahren oder Verfahrensabschnitte, es sei denn, es besteht eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung (BVerwG, U. v. 26.03.1985 - BVerwG 9 C 47.84 -, Buchholz 402.25 § 10 AsylVfG Nr. 1; VG Karlsruhe, U. v. 04.02.2005 - 3 K 11689/04 - zit. n. juris). Berücksichtigt man, dass für die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen Widerrufsentscheidungen eine fristgebundene Prüfungspflicht des Bundesamts nicht existiert hat und dass das Bundesamt nach Erlass seiner Widerrufsentscheidung dieser neuen Verfahrensvorschrift im gerichtlichen Verfahren auch nicht mehr Rechnung tragen kann, so hätte es zwingend einer gesetzlichen Geltungsanordnung bedurft, wenn in diesen Fällen dennoch die mit der Prüfungspflicht verbundene materiell-rechtliche Folge einer Ermessensentscheidung rückwirkend zur Anwendung hätte gelangen sollen. Es hätte dem Gesetzgeber frei gestanden, für Übergangsfälle - etwa durch die Fiktion einer negativen Mitteilung - bei mehr als drei Jahre zurückliegenden Asylanerkennungen oder Feststellungen nach § 51 Abs. 1 AuslG dem Ausländer eine im Verhältnis zur alten Rechtslage günstigere Rechtsposition einzuräumen. Dies ist jedoch nicht erfolgt.

Ein im Wege einer erweiternden Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG begründeter Anspruch des Klägers auf eine Ermessensentscheidung ist auch nicht aus Vertrauensschutzgesichtspunkten herzuleiten, wie dies das Verwaltungsgericht glaubt annehmen zu können. § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG knüpft an die negative Mitteilung an, dass ein Widerruf nicht erfolgen wird. Diese liegt bei den sog. Altfällen jedoch nicht vor und kann auch nach erfolgtem Widerruf zwangsläufig nicht mehr ergehen. Mithin ist auch seitens des Bundesamts kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, dem im Rahmen einer Ermessensentscheidung Rechnung getragen werden müsste. Die sich aus dem längeren Aufenthalt in Deutschland ergebenden individuellen Belange eines Ausländers sind im ausländerrechtlichen Verfahren, in dem regelmäßig nach pflichtgemäßem Ermessen nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG darüber zu entscheiden ist, ob der aufgrund der nun widerrufenen asylrechtlichen Entscheidung gewährte Aufenthaltstitel zu widerrufen ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U. v. 20.02.2003 - BVerwG 1 C 13.02 -, BVerwGE 117, 380 [386]). Das Asylrecht zielt dagegen auf die objektive Schutzbedürftigkeit des Ausländers ab. Ist diese entfallen, bedarf es des Asyl- oder Flüchtlingsstatus nicht mehr.