VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 18.07.2005 - 24 L 1042/05 - asyl.net: M7054
https://www.asyl.net/rsdb/M7054
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Rücknahme, Niederlassungserlaubnis, Nachträgliche Befristung, Libanon, Libanesen, Staatenlose, Syrien, Syrer, Örtliche Zuständigkeit, Jahresfrist, Arglist, Kenntnis, Verwirkung, Ermessen, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Niederlassungserlaubnis, Suspensiveffekt, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwVfG § 48; AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; OBG NRW § 4 Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

II. In materieller Hinsicht fällt die dem Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO als eigene Ermessensentscheidung übertragene Abwägung des individuellen Aufschubinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse zu Lasten des Antragstellers aus.

1. Für die Rücknahme der als unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilten Niederlassungserlaubnis ergibt sich dies daraus, dass Zweifel an deren Rechtmäßigkeit nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung nicht bestehen und der Antragsteller nicht hat glaubhaft machen können, dass gleichwohl sein Interesse an der Aussetzung der Vollziehbarkeit überwiege.

a) Der Antragsgegner hat zu Recht zu dem Instrument der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis gegriffen.

Für die Abgrenzung der Rücknahme (§ 48 VwVfG NRW) von der Rückbefristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) ist entscheidend, ob eine für den Aufenthaltstitel wesentliche Voraussetzung von vornherein nicht erfüllt war oder ob sie erst nach Erteilung des Titels entfallen ist. Die Rückbefristung eines Aufenthaltstitels kommt nur zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen für seine Erteilung bzw. Verlängerung nicht von vornherein gefehlt haben, sondern erst während seiner Geltung entfallen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Mai 1995 - 1 C 3.94).

Der Grund für die am 20. Oktober 1998 erfolgte Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers nach § 35 AuslG war die Annahme, dieser stamme aus dem Libanon, könne seine libanesische Staatsangehörigkeit nicht nachweisen oder sei staatenlos und verfüge über keine andere Staatsangehörigkeit, so dass er seit acht Jahren i.S.d. § 35 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 AuslG zu Recht eine Aufenthaltsbefugnis besitze. Diese Annahme war jedoch unzutreffend.

Denn der Antragsteller ist nach der in dem Schreiben der Deutschen Botschaft Damaskus vom 24. November 2003 übermittelten Auskunft des syrischen Außenministerium bereits seit seiner Geburt syrischer Staatsangehöriger. Die Kammer hat keine Veranlassung, die Richtigkeit dieser Auskunft der zuständigen syrischen Behörden anzuzweifeln.

b) Die Rücknahmevoraussetzungen des § 48 VwVfG NRW sind erfüllt.

aa) Der Antragsgegner war nach § 4 Abs. 1 OBG i.V.m. § 48 Abs. 5, § 3 Abs. 3 VwVfG NRW örtlich zuständig.

Zwar bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit für ausländer- bzw. aufenthaltsrechtliche Maßnahmen mangels spezieller bundesrechtlicher Vorschriften (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 - 1 C 25.96 -, EZAR 601 Nr. 8) in Nordrhein-Westfalen auf Grund des gefahrenabwehrrechtlichen Charakters dieser Maßnahmen mit eine Anwendung des VwVfG NRW verdrängender Wirkung grundsätzlich nach § 4 OBG, so dass die Ordnungsbehörde örtlich zuständig ist, in deren Bezirk die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 10. Juli 1997 - 18 B 1853/96 -, NVwZ-RR 1998, 201 = EZAR 601 Nr. 7, vom 20. Oktober 1997 - 18 B 834/96 -, EZAR 601 Nr. 9, vom 29. Januar 2001 - 18 B 116/01 -, vom 6. März 2003 - 18 B 190/03 -, vom 27. Mai 2004 - 19 B 1577/02 - und vom 28. Juli 2004 - 19 B 2409/03 -; Kammer, Beschluss vom 17. November 2004 - 24 L 2438/04).

Das VwVfG NRW gilt nach seinem § 1 Abs. 1 nämlich nur, soweit nicht Rechtsvorschriften des Landes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten, wie sie für die örtliche Zuständigkeit der Ordnungsbehörden grundsätzlich § 4 OBG darstellt.

Allein nach § 4 Abs. 1 OBG wäre der Antragsgegner am 24. Februar 2005 zum Erlass der angefochtenen Ordnungsverfügung nach der hier gebotenen summarischen Prüfung örtlich nicht mehr zuständig gewesen. Maßgeblich für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit ist nämlich der Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. März 1996 - 18 B 199/95 -; Kammer, Beschlüsse vom 28. Juni 1996 - 24 L 1342/96 -, vom 12. August 1999 - 24 L 2430/99 - und vom 15. August 2000 - 24 L 1401/00).

Der Antragsteller hatte seinen Wohnsitz aber bereits am 17. Februar 2005 nach P umgemeldet und es bestanden keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er sich danach noch in T aufhalten oder dorthin zurückkehren würde, so dass nicht ersichtlich ist, dass zu schützende öffentliche aufenthaltsrechtliche Interessen in T noch verletzt oder gefährdet worden wären.

Dies schloss hier aber eine Fortführung des Verwaltungsverfahrens durch den Antragsgegner gemäß § 3 Abs. 3 VwVfG NRW als bisher nach § 4 Abs. 1 OBG örtlich zuständige Ausländerbehörde nicht aus. Das OBG enthält nämlich keine zu § 3 Abs. 3 VwVfG NRW i.S.d. § 1 Abs. 1 VwVfG NRW inhaltsgleiche oder entgegenstehende, mithin eine Sperrwirkung entfaltende Bestimmungen, insbesondere stellt § 6 OBG keine solche Regelung dar.

Vielmehr verweist gerade in Fällen der Rücknahme eines Verwaltungsakts der Wortlaut des § 48 Abs. 5 VwVfG NRW auf die Regelung der örtlichen Zuständigkeit durch § 3 VwVfG NRW, somit auch auf dessen Abs. 3 (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 1999 - 7 C 42.98 -, BVerwGE 110, 226 = NJW 2000, 1512).

Das OBG enthält demgegenüber keine Spezialregelung hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit für die Rücknahme von Verwaltungsakten.

Schließlich sprechen auch im Ausländer- bzw. Aufenthaltsrecht gewichtige Zweckmäßigkeitserwägungen dafür, dass die zunächst örtlich zuständige Behörde, welche die Ermittlungen - und wie hier sogar schon die Anhörung nach § 28 VwVfG NRW - durchgeführt hat, bei Wahrung der Interessen der Beteiligten mit Zustimmung der nunmehr örtlich zuständigen Behörde die Entscheidung über den Erlass des Verwaltungsakts treffen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Mai 1995 - 1 C 7.94 -, BVerwGE 98, 313 = EZAR 012 Nr. 2).

Andernfalls drohte auch die Gefahr, dass sich ein Ordnungspflichtiger durch dauerhaftes Verlassen des Zuständigkeitsbereichs der jeweils zunächst örtlich zuständigen Ausländerbehörde vor Zustellung einer Ordnungsverfügung Ordnungsmaßnahmen nachhaltig entziehen könnte.

ee) Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis war nicht wegen Verstoßes gegen § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG NRW rechtswidrig.

Indem der Antragsteller am 20. Oktober 1998 seine syrische Staatsangehörigkeit gegenüber dem Landrat des Landkreises Darmstadt-Dieburg verschwieg und stattdessen das Antragsformular unterschrieb, welches die unzutreffende Angabe seiner Staatenlosigkeit enthielt, rief er bei dem für die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis verantwortlichen Mitarbeiter einen Irrtum hervor, der zu der von dem Antragsteller beabsichtigten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis führte.

Es ist auch davon auszugehen, dass der Antragsteller bei Hervorrufen dieses Irrtums Kenntnis von seiner syrischen Staatsangehörigkeit hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er 35 Jahre alt. Nach der in dem Schreiben der Deutschen Botschaft Damaskus vom 24. November 2003 übermittelten Auskunft des syrischen Außenministerium ist der Antragsteller aber bereits seit seiner Geburt syrischer Staatsangehöriger. Er trägt zwar vor, erst später durch seinen Vater hiervon Kenntnis erlangt zu haben und nicht zu wissen, wann dieser ihn registriert habe. Es muss aber angenommen werden, dass der Antragsteller am 20. Oktober 1998 Kenntnis von seiner syrischen Staatsangehörigkeit hatte. Denn es ist nicht erklärlich, warum sein Vater ihm über viele Jahre eine so bedeutende Tatsache wie seine syrische Staatsangehörigkeit, die für ihn mit wichtigen Rechten und Pflichten verbunden ist, verschwiegen haben sollte. Der Antragsteller hat entsprechende Gründe auch nicht ansatzweise vorgebracht. Vielmehr spricht auch die Tatsache, dass er ausweislich der in seinem Reisedokument vorhandenen syrischen Visa 1994 mehrfach in Syrien war, dafür, dass er spätestens zu dieser Zeit Kenntnis von seiner syrischen Staatsangehörigkeit erlangt hatte.

ff) Die Möglichkeit der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis hatte der Antragsgegner auch nicht verwirkt. Eine Verwirkung kommt zwar auch schon vor Ablauf der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG NRW in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 1999 - 7 C 42.98 -, a.a.O.) ihre Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt. Erforderlich wäre nämlich, dass der Antragsteller aus Tatsachen berechtigterweise den Schluss ziehen durfte, der Antragsgegner werde die Erlaubnis trotz Wissens um ihre Rücknehmbarkeit nicht mehr zurücknehmen, und dass er dieses tatsächliche Vertrauen in einer Weise betätigt hätte, dass ihm durch die Rücknahme ein unzumutbarer Nachteil entstünde.

Weder aus der Verlängerung seines Reisedokuments noch aus den Übertragungen seiner Aufenthaltserlaubnis in seine syrischen Pässe durfte der Antragsteller berechtigterweise den Schluss ziehen, der Antragsgegner werdedie Erlaubnis nicht mehr zurücknehmen. Hinsichtlich der am 16. Januar 2003 erfolgten Verlängerung des Reiseausweises gilt dies schon deshalb, weil der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt nach seinen damaligen Angaben gegenüber dem Antragsgegner noch gar nicht im Besitz einer syrischen Staatsangehörigkeit war, so dass der Antragsgegner nicht davon ausgehen konnte bzw. musste, dass die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Erlaubnis vorlagen.

Auch aus den Übertragungen seiner Aufenthaltserlaubnis in seine syrischen Pässe am 20. Mai 2003 und am 19. Dezember 2003 durfte der Antragsteller nicht berechtigterweise den Schluss ziehen, der Antragsgegner werde die Erlaubnis trotz Wissens um ihre Rücknehmbarkeit nicht mehr zurücknehmen. Da der Antragsteller zu diesen Zeitpunkten im Besitz dieses Aufenthaltstitels war, erfolgte dessen Übertragung als deklaratorischer Vorgang.

Im Hinblick auf die in § 48 VwVfG NRW bzw. in § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG enthaltenen Befugnisse, Aufenthaltstitel bei anfänglichem Fehlen einer wesentlichen Erteilungsvoraussetzung zurückzunehmen bzw. bei Wegfall einer wesentlichen Erteilungsvoraussetzung nachträglich zeitlich zu beschränken, können nämlich aus dem anfänglichen Fehlen bzw. dem Wegfall einer Erteilungsvoraussetzung unmittelbar nur dann aufenthaltsrechtliche Folgerungen gezogen werden, wenn dies im Gesetz ausdrücklich angelegt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juni 2004 - 1 C 20.03 -, InfAuslR 2004, 427 = EZAR 023 Nr. 35), so dass der Antragsgegner mangels einer vorherigen Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis verpflichtet gewesen sein dürfte, diese zu übertragen. Auch eine nur konkludente Entscheidung über deren Fortbestand war damit nicht verbunden. Daher unterscheidet sich eine bloße Übertragung eines bestehenden Aufenthaltstitels grundlegend von dessen Erteilung bzw. Verlängerung, welche grundsätzlich ein berechtigtes Vertrauen auf eine fehlende spätere Rücknahme begründen (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 20. Mai 2005 - 18 B 1207/04 - und vom 12. Juni 2001 - 18 A 4647/99 - m.w.N.).

gg) Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis war schließlich auch ermessensfehlerfrei.

Da die Langjährigkeit des Aufenthalts des Antragstellers und seiner Familie im Bundesgebiet und faktische Integrationsleistungen allein auf seinen falschen Angaben und dem pflichtwidrigen Verschweigen seiner syrischen Staatsangehörigkeit beruhen, kommt ihnen kein besonderes Gewicht zu. Nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG ist nämlich allein die Dauer eines rechtmäßigen Aufenthalts des Antragstellers und seiner Familienangehörigen relevant, nicht jedoch eines rechtswidrigen Aufenthalts.

Auf Grund der rückwirkend auf den 20. Oktober 1998 wirkenden Rücknahme der Niederlassungserlaubnis hielt der Antragsteller sich seit diesem Zeitpunkt nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet auf. In der vorangegangenen Zeit verfügte er zwar formell über ein Aufenthaltsrecht, in dieser Zeit hat er aber keine wirtschaftlichen Integrationsleistungen erbracht, die gegenwärtig noch fortdauern würden.