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VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 19.07.2005 - Au 4 K 03.30838 - asyl.net: M7045
https://www.asyl.net/rsdb/M7045
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folgeantrag, Neue Beweismittel, Posttraumatische Belastungsstörung, Verschulden, Attest, Festnahme, Sicherheitskräfte, Folter, Misshandlungen, Interne Fluchtalternative, Westtürkei, Reformen, Vorverfolgung, Situation bei Rückkehr, Wehrdienst, Retraumatisierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51
Auszüge:

Der vom Kläger gestellte Asylfolgeantrag (§ 71 AsylVfG) ist beachtlich.

Der Kläger hat im Folgeantrag eine gegenüber dem Erstverfahren geänderte Sachlage geltend gemacht. Er hat vorgetragen, dass er an einer posttraumatischen Belas- tungsstörung (PTBS) aufgrund von in der Türkei erlittenen schweren Misshandlun- gen durch staatliche Sicherheitskräfte leide. Dies führt dazu, dass, wie unten noch weiter dargelegt wird, dem Kläger, der von einer (regional begrenzten) individuellen politischen Verfolgung in der Türkei betroffen war (wovon das Verwaltungsgericht auch im Erstverfahren ausgegangen ist), keine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 VwVfG liegen ebenfalls vor. Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger wegen seiner auch bereits im Erstverfahren bestehenden psychischen Störung nicht in der Lage war, den geänderten Sachverhalt geltend zu machen.

Der Kläger hat die Türkei vorverfolgt verlassen.

Im Juli 1996 wurde er in ... von türkischen Sicherheitskräften auf der Straße angesprochen und gefragt, warum er keinen Wehrdienst leiste. Bei dieser Gelegenheit wurde er aufgefordert, für die Polizei Spitzeldienste zu leisten, was er jedoch ablehnte. Etwa eine Woche später wurde er erneut von Sicherheitskräften aufgefordert, Spitzeldienste zu leisten. Als er dies erneut ablehnte wurde er festgenommen und in das Karakol (Polizeiwache) in ... verbracht. Dort wurde er zwei Tage lang festgehalten und gefoltert. Ihm wurden die Augen verbunden und Handschellen angelegt. Er wurde mit Faust- und Stockschlägen ins Gesicht und auf den ganzen Körper misshandelt bis er zu Boden sank. Dort wurde er weiter misshandelt und mit Füßen getreten. Später wurde er an den Händen festgebunden und mit einem harten Wasserstrahl abgespritzt. Weiter wurden ihm Elektroschocks zugefügt, bis er da Bewusstsein verlor. Diese Misshandlungen erstreckten sich über zwei Tage, während derer er weder essen noch trinken konnte. Nachdem er ein Papier unterschrieben hatte, wurde er freigelassen.

Nach Überzeugung des Gerichts war es dem Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei nicht zuzumuten, sich auf eine Übersiedlung in einen andern Landesteil der Türkei, insbesondere die Großstädte im Westen verweisen zu lassen, um dort den Repressalien der Sicherheitskräfte zu entgehen. Dem Kläger stand daher keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Nach der Aussage des gerichtlichen Sachverständigen ... in der mündlichen Verhandlung am 8. Juli 2005 habe beim Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine erhebliche PTBS vorgelegen und zwar auch bereits, als sich der Kläger noch in der Türkei aufgehalten hat.

Klägers vor seiner Ausreise aus der Türkei übertragbar. Der Kläger hätte bei ei- nem Verbleib in der Türkei - auch im Westen - nicht sicher sein können, irgend- wann von staatlichen Sicherheitskräften aufgegriffen und zur Ableistung seines Wehrdienstes dem Militär zugeführt zu werden. Bereits die Angst vor einem derartigen Ereignis, etwa ausgelöst von einem nach menschlichem Ermessen kaum zu vermeidenden Kontakt mit Sicherheitskräften, und die damit verbundene Furcht vor einem Einsatz im Osten - auch wenn ein solcher möglicherweise objektiv gar nicht gedroht hätte - hätten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Traumatisierung hervorgerufen, was schwerwiegende nachteilige Folgen auf die psychische Verfassung des Klägers - bis hin zu einem keineswegs unwahrscheinlichen Suizid - bewirkt hätte. Dieser ohne Zweifel existenziellen Gefahr hätte der Kläger auch nicht dadurch entgehen können, dass er sich in der Türkei einer (psychotherapeutischen oder pharmakologischen) Behandlung unterzogen hätte.

Der Kläger, der sich als vorverfolgt Ausgereister auf den herabgestuften Progno- semaßstab berufen kann, ist bei einer Rückkehr in die Türkei vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Es besteht auch angesichts der in jüngerer Zeit stattgefundenen Entwicklung in der Türkei noch keine hinreichende Gewissheit, dass der Kläger vor Repressalien ähnlicher Art, wie er sie vor seiner Ausreise hat über sich ergehen lassen müssen, sicher ist. Zwar haben in der Türkei in den letzten Jahren nicht unerhebliche positive Veränderungen im Hinblick auf den von der jetzigen Regierung angestrebten EU-Beitritt der Türkei stattgefunden (vgl. dazu z.B. Lageberichte des Auswärtigen Amts vom 12.8.2003, 19.5.2004 und 3.5.2005), doch dürften die getroffenen, insbesondere gesetzgeberischen Maßnahmen in der Praxis, vor allem innerhalb des Apparats der türkischen Sicherheitskräfte noch nicht in dem Maße umgesetzt worden sein, dass eine hinreichende Sicherheit bejaht werden könnte (so auch OVG Münster vom 9.12.2003 Az: 8 A 5501/00.A; Juris-Nr. MWRE204011984; OVG Koblenz vom 12.5.2004 Az. 10 A 11952/03, Juris-Nr. MWRE104570400). Angesichts des Umstands, dass der Kläger bereits in das Blickfeld örtlicher Sicherheitskräfte geraten und schwer misshandelt worden ist, bestehen zumindest ernsthafte Zweifel daran, dass er bei einer Rückkehr dorthin nicht wiederum mit asylrelevanten Maßnahmen überzogen wird. Dem Kläger ist auch aktuell ein Ausweichen in andere Landesteile der Türkei nicht zumutbar. Zwar sind entsprechend den Darlegungen des gerichtlichen Sachverständigen zwischenzeitlich, d.h. etwa seit dem Jahre 2002, die Symptome der PTBS abgeklungen, doch würde ein spezifisches Belastungsereignis, d. h. bereits die Angst vor einem Einsatz im Osten der Türkei während der Ableistung des Wehrdienstes, zu einer erneuten Retraumatisierung führen. Dass es dazu kommen würde, ist nach Einschätzung des erkennenden Gerichts kaum zu vermeiden.