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Zitieren als:
, Bescheid vom 02.06.2005 - 5103536-1-232 - asyl.net: M6968
https://www.asyl.net/rsdb/M6968
Leitsatz:
Schlagwörter: Nigeria, Urhobo, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsfrauen, Genitalverstümmelung, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Interne Fluchtalternative, Soziale Gruppe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Mit der Neuregelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist nunmehr eindeutig normiert, dass eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Da diese Neuregelung erst zum 01.01.2005 in Kraft getreten ist, war der Bescheid, vom 28.09.2004 im Rahmen der Prüfung einer Abhilfeentscheidung aufzuheben.

2. Wegen der in Nigeria drohenden Zwangsbeschneidung liegt ein Abschiebungsverbot zu Gunsten der Antragstellerin im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG vor.

Eine politische Verfolgung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Gruppenzugehörigkeit ist anzunehmen; wenn die Mitglieder einer Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Außerdem muss die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität haben, auf Grund derer sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, (Art. 10 Abs. 1 d der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004).

Die der Antragstellerin durch private Dritte (z. B. Dorfbewohner) drohende Zwangsbeschneidung ist dem Staat nicht als politische Verfolgung zurechenbar. Die Beschneidungspraxis wird vom nigerianischen Staat missbilligt und ist in mehreren Staaten von Nigeria gesetzlich verboten, ohne das Verbot bei der Bevölkerung effektiv durchsetzen zu können.

Die Art der Beschneidung variiert nach ethnischer Gruppe und der geographischen Begebenheit. Sie findet sich in zahlreichen Bevölkerungsgruppen und ist Teil der vielfältigen Kulturen, Traditionen, Religionen und Bräuche, die in Nigeria existieren. Sie wird innerhalb weniger Tage nach der Geburt bis sogar wenige Tage nach dem Tod praktiziert, grundsätzlich ohne Betäubung. Im Bundesstaat Edo ist es beispielsweise üblich, die Beschneidung innerhalb weniger Tage nach der Geburt durchzuführen. In einigen sehr traditionsreichen Gemeinden wird sie sogar noch kurz vor der Beerdigung vorgenommen. Gelegentlich erfolgt sie auch während des Geburtsvorganges und ist ursächlich für die hohen Krankheits- und Sterblichkeitsraten.

Es gibt keine Bundesgesetze gegen die Genitalverstümmelung in Nigeria. Ihre Gegner verweisen auf die Verfassung aus dem Jahre 1999, in der der Grundsatz festgelegt ist, dass niemand der Folter unterworfen werden soll bzw. einer entwürdigenden Behandlung. Im Jahr 1999 hat Edo ein Gesetz verabschiedet, das im Falle einer Strafbarkeit die Zahlung von 1000 Niara (entspr. 10 US-Dollar) und Gefängnis für sechs Monate vorsieht. Ogun, Cross River, Osun, Rivers und Bayelsa haben gleichlautende Regelungen (Nigeria: Report an Female Genital Mutilation (FGM) or Female Genital Cutting (FGC), http:www.state.govfg/wi/rls/rep/crfgm/10106.htm (19.11.2004). Die nigerianische Regierung hat beschlossen, einen Tag der Intoleranz gegenüber Genitalverstümmelung an jedem 06. Februar eines Jahres zu begehen (afrol news vom 10. Februar 2003, http:www.afrol.com/articles/11236 [19.11.2004]).

Wer sich der Beschneidung widersetzt, ist oft sozialem Druck ausgesetzt, der von Missbilligung bis hin zu einem Verstoß aus der Gemeinschaft reicht (ai, Gutachten vom 24. Juli.2003 an VG Aachen, Az.: AFR 44-03.017; IAK, Gutachten vom 28. März 2003 an VG Düsseldorf, Az.: ohne).

Die bisherige Rechtsprechung verneint einhellig das Vorliegen von politischer Verfolgung bei drohender Zwangsbeschneidung. Die Genitalverstümmelung habe keinen Ausgrenzungscharakter (VG Osnabrück, Urteil vom 05. April 2004, Az.: 5 A 69/04). Sie stelle zwar einen erheblichen Eingriff in die körperliche. Unversehrtheit der betroffenen Frauen dar, werde jedoch von einem privaten Dritten (Dorfbewohner) vorgenommen. Im Übrigen missbillige der nigerianische Staat die Beschneidung, habe sie gesetzlich verboten und könne sie nur nicht durchsetzten (VG Osnabrück, Urteil vom 13. September 2004, Az.: 5 A 368/04; VG Sigmaringen, Urteil vom 01. Juni 2004, Az.: A 3 K 10139/03). Das VG Aachen vertritt die Ansicht, dass die zwangsweise durchgeführte Genitalverstümmelung eine politische Verfolgung darstelle und eine Rechtsverletzung von asylerheblicher Intensität sei. Sie knüpfe an die Überzeugung der Betroffenen an, ein körperlich unversehrtes Leben als Frau zu führen und die traditionelle Beschneidung zu verweigern. Da der Staat nicht wirksam gegen sie vorgehe und die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel nicht gebrauche, sei sie ihm als mittelbare Verfolgung zuzurechnen (VG Aachen, Urteil vom 16, Februar 2004, Az.: 2 K 1893/02.A).

Die Antragstellerin kann nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Es gibt in Nigeria praktisch kein Gebiet, in dem Frauen vor Beschneidung sicher sind (ai, Gutachten vom 24. Juli 2003 an VG Aachen, Az.: AFR 44-03.017). In den islamisch geprägten Norden oder die Mitte Nigerias kann, sie als allein stehendes Mädchen auch zusammen mit ihrer Mutter ohne den Schutz einer Familie oder einer Dorfgemeinschaft nicht ausweichen. In christlich geprägten südlichen Landesteilen ist ein hinreichend sicheres Überleben ohne solchen Schutz nur bei entsprechend gutem Ausbildungsstand und gewissen finanziellen Ressourcen möglich. Zu berücksichtigen ist die Schul- und Berufsausbildung, ebenso ob finanzielle Ressourcen oder eine Lebensgrundlage vorhanden sind (VG Sigmaringen, 01. Juni 2,004, Az.: A 3 K 10139103; a.A. VG Aachen, Urteil vom 16. Februar 2004, Az.: 2 K 1893/02.A).

Die Mutter der Antragstellerin konnte glaubhaft machen, dass die Antragstellerin konkret der Gefahr der Zwangsbeschneidung in Nigeria ausgesetzt gewesen ist und ihr bei einer Rückkehr dorthin alsbald diese Gefahren drohen würden. Die Antragstellerin gehört ebenso wie ihre Mutter dem Volk der Urhobo an, wo weibliche Genitalverstümmelung weit verbreitet ist. Die Urhobo führen diese Praxis auch im Erwachsenenalter durch. Im Bundesstaat Delta beträgt die Verbreitung der FGM, die sich vor allem in der "traditionellen" Sphäre abspielt, 90%. Dabei ist unerheblich, dass die Mutter der Antragstellerin die praktizierte Beschneidungspraxis nicht billigt. Die Beschneidung wird in Nigeria von Verwandten und dem Familienverband als ein in traditionellen Vorstellungen wurzelndes Ritual auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt.