VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 29.03.2005 - AN 9 K 04.30827 - asyl.net: M6878
https://www.asyl.net/rsdb/M6878
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Zeugen Jehovas wegen Gefahr der nichtstaatlichen Verfolgung durch Muslime oder andere Christen im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, nichtstaatliche Verfolgung, Religiös motivierte Verfolgung, Zeugen Jehovas, Christen, Konversion, Apostasie, Christen, Mandäer, Sicherheitslage, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Gruppenverfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Zeugen Jehovas wegen Gefahr der nichtstaatlichen Verfolgung durch Muslime oder andere Christen im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (bis 31. Dezember 2004: § 51 Abs. 1 AuslG a.F. ) vorliegen, zu, da er glaubhaft machen konnte, bei einer Rückkehr in den Irak wegen seiner Religionszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen durch Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG betroffen zu sein.

2.1 Der Kläger, ein vormals chaldäischer Christ, ist im Jahre 2004 zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas übergetreten. Dieser Glaubenswechsel entspricht nach Überzeugung des Gerichts einer inneren, gefestigten und ernsthaften Überzeugung des Klägers.

2.2 Der Kläger muss auch wegen dieses Übertritts und der nunmehrigen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bei einer Rückkehr in den Irak mit der notwendigen beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen im obigen Sinne (vgl. 1.) rechnen. Diese Einschätzung ergibt sich zum einen daraus, dass der Kläger damit einer christlichen Religionsgemeinschaft angehört, die in den Augen der moslemischen Mitbürger des Irak keine Anerkennung verdient und ihn in den Augen der christlichen Mitbürger des Irak als Abweichler erkennen lässt. Hinzu kommt, dass wegen der verschwindend geringen Anzahl von Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas im Irak er sich auch nicht unter den Schutz seiner Glaubensgemeinschaft bei Rückkehr stellen könnte.

2.2.1 Nach den im Verfahren eingeholten Auskünften ergibt sich, dass für Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas eine beachtliche Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in den Irak besteht.

Insgesamt zeigen diese Ausführungen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seiner Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungssituation durch die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften droht, ohne dass es dabei darauf ankommt, ob der Kläger für seinen Glauben missioniert. Dies muss insgesamt der gefährdeten Situation nicht-moslemischer Glaubensgemeinschaften im heutigen Irak entnommen werden. Dabei ist diese Verfolgungstendenz nicht-moslemischen Glaubenszugehörigen gegenüber nicht unmaßgeblich auch davon geprägt, dass insoweit hinter einem Nicht-Moslem ein Kollaborateur mit den Besatzungstruppen vermutet wird. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass eine solche Verfolgungssituation durch Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG je beachtlich wahrscheinlicher ist, je kleiner die Religionsgemeinschaft ist. Dies ergibt sich aus den zum Verfahren eingeholten Auskünften und dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. November 2004 auch im Hinblick auf die dortigen Stellungnahmen zur Situation der Mandäer, die ebenfalls eine nicht-christliche aber eher von der Zahl geringfügige nicht-moslemische Glaubensgemeinschaft ist. Nach den eingeholten und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften spricht schließlich auch alles dafür, dass solchen verfolgten Mitgliedern der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas ein Schutzwille oder eine Schutzmöglichkeit seitens des Staates oder die Akteure nach § 60 Abs. 1 Satz 4 b AufenthG nicht offen steht. Vielmehr ist die Sicherheitslage im Irak derzeit sehr bedenklich, und die Polizeiorgane sind selbst von Nachstellungen Aufständischer ständig bedroht. Diese Einschätzung der Situation der Zugehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas wird auch maßgeblich durch die Aussage des einvernommenen Zeugen belegt. Wie sich aus den überzeugenden Aussagen dieses Zeugen ergibt, ist es selbst bei den wenigen, überhaupt im Irak lebenden Zeugen Jehovas bereits zu Verfolgungsmaßnahmen gekommen. So sind nach seinen glaubhaften Bekundungen nicht nur im Krieg drei der im Irak lebenden Glaubenszugehörigen ums Leben gekommen, sondern nach dem Ende der Kriegshandlungen im Mai 2003 zwei weitere Mitglieder wegen ihres Glaubens von anderen Glaubensangehörigen getötet worden.

Mangels der fehlenden Einbettung von Mitgliedern der Zeugen Jehovas in eine bestehende und funktionierende Kirchengemeinde und der vom Deutschen Orient-Institut beschriebenen Ablehnung der Zeugen Jehovas durch die im Irak vorhandenen anderen christlichen Kirchen besteht für den Kläger auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Dies gilt im Übrigen auch im Hinblick darauf, dass die klägerische Familie wohnsitzmäßig auf Bagdad beschränkt ist und die Entscheidung des Klägers zum Glaubensübertritt nicht gut heißt. Auch im Nord-Irak stände dem Kläger keine innerstaatliche Fluchtalternative zu, da wegen der u. a. im Lagebericht vom 2. November 2004 beschriebenen notwendigen familiären oder clanmäßigen Beziehungen der Kläger dort ein nicht geduldeter Fremdkörper wäre.