VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 04.05.2005 - 1 K 772/03.A - asyl.net: M6862
https://www.asyl.net/rsdb/M6862
Leitsatz:

Keine hohen Anforderungen an Darlegung individueller Verfolgung in Tschetschenien; keine inländische Fluchtalternative in Russland bei individueller Verfolgung; Flüchtlingsanerkennung für Frau, deren Angehörige im Bürgerkrieg kämpfen.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Sicherheitskräfte, Separatisten, Awaren, Sippenhaft, Haft, Glaubwürdigkeit, Frauen, Intensität, Interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hohen Anforderungen an Darlegung individueller Verfolgung in Tschetschenien; keine inländische Fluchtalternative in Russland bei individueller Verfolgung; Flüchtlingsanerkennung für Frau, deren Angehörige im Bürgerkrieg kämpfen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Bei dieser Beurteilung ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Anforderungen an die Annahme einer individuellen politischen Verfolgung bei tschetschenischen Volkszugehörigen und auch bei Angehörigen anderer Kaukasusvölker, die tatsächlich in Tschetschenien leben, nicht all zu hoch angesetzt werden dürfen. Denn bei der intensiven Bekämpfung tschetschenischer Aufständischer kommt es nach übereinstimmender Einschätzung aller sachkundiger Stellen immer wieder zu schwerwiegenden, menschenrechtswidrigen Übergriffen russischer und pro-russischer tschetschenischer Sicherheitskräfte gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung, vor allem, aber nicht allein gegen junge Männer im wehrfähigen Alter. Die tschetschenische Bevölkerung ist intensiven Kontrollen durch russische oder pro-russische Sicherheitskräfte auf deren Suche nach tschetschenischen Kämpfern ausgesetzt. Dabei kommt es insbesondere zu willkürlichen Festnahmen, Entführungen, Verschwinden von Menschen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstählen. Diese Übergriffe sind angesichts des Verhaltens staatlicher russischer Stellen nicht lediglich als Exzesse einzelner Amtsträger zu beurteilen. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen bleibt weit hinter deren Ausmaß zurück. Auch wenn - was in diesem Verfahren offen bleiben kann - der Grad der Wahrscheinlichkeit derartiger schwerwiegender Übergriffe die Annahme einer Gruppenverfolgung noch nicht rechtfertigen sollte, können vor diesem Hintergrund an eine weiterreichende individuelle Verfolgung jedenfalls keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Sie ist zu bejahen, falls die Betroffenen über ihre tschetschenische oder kaukasische Volkszugehörigkeit hinaus in das Blickfeld der russischen oder pro-russischen tschetschenischen Sicherheitskräfte gelangt sind und von ihnen der als feindlich betrachteten tschetschenischen (separatistischen) Seite zugerechnet werden (vgl. Urteile der Kammer vom 4. März 2004 - 1 K 15/02.A - und vom 19. Juli 2004 - 1 K 3857/01.A).

Hiervon ausgehend war die Klägerin bei ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht.

Das Gericht hat zunächst die Überzeugung gewonnen, dass es sich bei der Klägerin tatsächlich um eine avarische Volkszugehörige handelt, die vom Jahr 2000 an bis zu ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation im Januar 2003 in Tschetschenien gelebt hat.

Außerdem hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin vor ihrer Ausreise als (vermeintliche) Unterstützerin und Sympathisantin der tschetschenischen Widerstandsbewegung in das Blickfeld der russischen Sicherheitskräfte geraten war. Hierbei stützt sich das Gericht auf die Angaben der Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und bei ihrer Befragung in der heutigen mündlichen Verhandlung. Die Klägerin hat dargelegt, ihr Ehemann und ihr Bruder hätten auf der Seite der tschetschenischen Kämpfer gestanden und seien deshalb gesucht worden; ihr Ehemann sei erschossen worden. Sie selbst sei zweimal für ca. 16 Tage inhaftiert gewesen. Das Gericht hält dieses Vorbringen der Klägerin, die persönlich einen emotional verstörten, aber durchaus glaubwürdigen Eindruck machte, für glaubhaft. Auch das Bundesamt hat keine Zweifel an der Wahrheit des Vorbringens geäußert. Das Vorbringen ist in den wesentlichen Aspekten widerspruchsfrei. Die Klägerin konnte zwar kaum Einzelheiten zu dem Engagement ihres Ehemanns und ihres Bruders nennen. Dies lässt sich jedoch durch die traditionelle Stellung der Frau in der tschetschenischen Gesellschaft erklären. Die diesbezüglichen Äußerungen der Klägerin waren spontan und überzeugend. Auf Nachfrage des Gerichts war die Klägerin in der Lage, Ereignisse, die sie selbst erlebt hatte, auch detaillierter zu schildern. Dabei fiel zwar auf, dass die Klägerin wiederholt betonte, sie könne oder wolle sich nicht erinnern. Dementsprechend schilderte sie Vorkommnisse, die sie persönlich besonders belastet haben dürften, wie erlittene Misshandlungen, nur ansatzweise. Andererseits berichtete sie spontan über Nebensächlichkeiten, wie die Begegnung mit einer weiteren inhaftierten Frau, in einer Art und Weise, die dem Gericht den Eindruck vermittelte, dass die Klägerin von etwas tatsächlich Erlebtem erzählte. Der Vortrag wirkte trotz bestehender Restzweifel des Gerichts an seiner Wahrheit insgesamt nicht auswendig gelernt und als zum Zwecke des Asylverfahrens konstruiert.

Hiervon ausgehend ist anzunehmen, dass die Klägerin tatsächlich asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen ist. Die Argumentation im angefochtenen Bescheid, die erlittenen Maßnahmen erreichten ihrer Intensität nach nicht die Schwelle des asylrechtlich Relevanten, ist angesichts der zweimaligen mehrwöchigen Inhaftierungen mit einhergehenden Misshandlungen nicht nachvollziehbar. Auch wenn die Klägerin nach beiden Inhaftierungen wieder frei gekommen ist, bedeutet das nicht, dass die Gefahr weiterer Übergriffe ausgeschlossen war. Vielmehr bestand auch zum Zeitpunkt der Ausreise für die Klägerin unmittelbar die Gefahr, alsbald erneut schwerwiegenden menschenrechtswidrigen Übergriffen der russischen oder pro-russischen tschetschenischen Sicherheitskräfte ausgesetzt zu sein. Da die fluchtbegründenden Umstände zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne wesentliche Änderung fortbestehen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Tschetschenien zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor künftiger politischer Verfolgung hinreichend sicher wären.

Der Zuerkennung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG steht in diesem Fall nicht eine so genannte inländische Fluchtalternative der Klägerin in der Russischen Föderation entgegen.

Grundsätzlich dürfte zwar nicht individuell vorverfolgten Tschetschenen oder anderen Kaukasiern in diesen Regionen eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehen (vgl. Urteil der Kammer vom 17. März 2004 - 1 K 3266101.A -; ebenso: Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg, Beschluss vom 3. Juli 2003 - 13 LA 90/03 -; Schleswig-Holsteinisches OVG, Urteile vom 24. April 2003, - 1 LB 213/01 - und - 1 LB 212/01 -; Verwaltungsgericht (VG) Augsburg, Urteil vom 12. August 2003 - Au 3 K 03.30188-; VG Regensburg, Entscheidung vom 2. Mai 2003 - RN 5 K 03.30496 -. a.A.: VG Karlsruhe vom 10. März 2004 - A 11 K 10417/02 -, Asylmagazin 2004, 21; VG Düsseldorf, Urteil vom 19. Mai 2003 - 25 K 7112/01.A -, VG Weimar, Urteil vom 5. Mai 2003 - 7 K 20250/02 -; VG Kassel, Urteil vom 15. April 2003 - 2 E 2303/01 .A -; VG Bayreuth, Urteil vom 20. März 2003 - B 6 K 02.31001 - , differenzierend: VG München; Urteile vom 8. April 2003 - M 16 K 02.50239 - und - M 16 K 02.50415 -).

Hinreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung ist insoweit aber nicht gewährleistet, wenn die betroffenen Personen, wie im vorliegenden Fall, bereits in ihrer Heimat Tschetschenien als tatsächliche oder vermeintliche Unterstützer tschetschenischer Widerstandskämpfer in das Blickfeld der staatlichen russischen Sicherheitskräfte gelangt sind. Vor dem Hintergrund des rigiden Vorgehens der russischen Sicherheitskräfte gegen die tschetschenischen Rebellen und der insgesamt rechtlich ungesicherten Lage von russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Volkszugehörigkeit auch außerhalb Tschetscheniens ist in diesen Fällen vielmehr auch in den Landesteilen, die als Fluchtalternativen in Erwägung gezogen werden, ernsthaft mit einer Fortsetzung der politischen Verfolgung zu rechnen (vgl. Urteil der Kammer vom 4. März 2004 - 1 K 15/02.A -).