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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.07.2005 - C-383/03 - asyl.net: M6844
https://www.asyl.net/rsdb/M6844
Leitsatz:

Ein türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 EWG/Türkei verliert sein Recht auf freien Arbeitsmarktzugang nicht deswegen, weil er während seiner – auch mehrjährigen – Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt nur vorübergehend ist.

 

Schlagwörter: Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Türken, Haft, Arbeitsmarkt, Arbeitnehmerbegriff
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 6; ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 14 Abs. 1
Auszüge:

Ein türkischer Arbeitnehmer nach Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 EWG/Türkei verliert sein Recht auf freien Arbeitsmarktzugang nicht deswegen, weil er während seiner – auch mehrjährigen – Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt nur vorübergehend ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zur Vorlagefrage

Zur sachdienlichen Beantwortung dieser Frage ist zunächst daran zu erinnern, dass sich aus dem Wortlaut des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1 /80 ergibt, dass der erste und der zweite Gedankenstrich dieser Bestimmung lediglich die Voraussetzungen regeln, unter denen ein türkischer Arbeitnehmer, der rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und dort die Erlaubnis erhalten hat, eine Beschäftigung auszuüben, seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat ausüben kann: Nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung darf er weiterhin bei demselben Arbeitgeber arbeiten (erster Gedankenstrich), und nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung kann er sich ­ vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs ­ für den gleichen Beruf auf ein Stellenangebot eines anderen Arbeitgebers bewerben (zweiter Gedankenstrich); im Gegensatz dazu verleiht Absatz 1 dritter Gedankenstrich dem türkischen Arbeitnehmer nicht nur das Recht, sich auf ein vorliegendes Stellenangebot zu bewerben, sondern auch uneingeschränkten Zugang zu jeder von ihm frei gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (vgl. Urteile vom 23. Januar 1997 in der Rechtssache C-171/95, Tetik, Slg. 1997, I-329, Randnr. 26, und Nazli, Randnr. 27).

Was zum einen die Lage eines türkischen Arbeitnehmers angeht, der wie Herr Dogan im Aufnahmemitgliedstaat nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung gemäß dem dritten Gedankenstrich ein Recht auf "freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis" in diesem Staat erworben hat, so hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass aus der unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung nicht nur folgt, dass der Betroffene hinsichtlich der Beschäftigung ein individuelles Recht unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 herleiten kann, sondern dass die praktische Wirksamkeit dieses Rechts außerdem zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraussetzt, das vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist (vgl. Urteile vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-192/89, Sevince, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 29 und 31, vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-237/91, Kus, Slg. 1992, I-6781, Randnr. 33, Tetik, Randnrn. 26, 30 und 31, sowie Nazli, Randnrn. 28 und 40; vgl. ferner analog für Artikel 7 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 Urteile vom 16. März 2000 in der Rechtssache C-329/97, Ergat, Slg. 2000, I-1487, Randnr. 40, und vom 11. November 2004 in der Rechtssache C-467/02, Cetinkaya, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 31, sowie für Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Urteile vom 5 . Oktober 1994 in der Rechtssache C-355/93, Eroglu, Slg. 1994, I-5113, Randnr. 20, und vom 19. November 1998 in der Rechtssache C-210/97, Akman, Slg. 1998, I-7519, Randnr. 24).

Nur für die Phase der Entstehung der nach Maßgabe der Dauer der Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis schrittweise erweiterten Rechte, die unter den drei Gedankenstrichen des Artikels 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1 /80 festgelegtsind, und damit nur für die Zwecke der Berechnung der insoweit erforderlichen Beschäftigungszeiten sieht nämlich Artikel 6 Absatz 2 vor, dass sich verschiedene Fälle der Unterbrechung der Arbeit auf diese Zeiten auswirken (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6 . Juni 1995 in der Rechtssache C434/93, Bozkurt, Slg. 1995, I1475, Randnr. 38, Tetik, Randnrn. 36 bis 39, und Nazli, Randnr. 40).

Dagegen ist von dem Zeitpunkt an, zu dem der türkische Arbeitnehmer die Voraussetzungen von Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1 /80 erfüllt und daher das in dieser Bestimmung vorgesehene uneingeschränkte Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sowie das diesem entsprechende Aufenthaltsrecht bereits erworben hat, Artikel 6 Absatz 2 nicht mehr anwendbar.

Folglich ist entgegen der Auffassung der österreichischen und der deutschen Regierung für die Auslegung der durch Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 eingeräumten Rechte unerheblich, dass die Strafhaft von Artikel 6 Absatz 2 nicht erfasst wird. Unbeachtlich ist auch das Argument dieser Regierungen, dass der türkische Arbeitnehmer für seine fehlende Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt während der Dauer seiner Strafhaft verantwortlich sei, so dass die Zeit der Arbeitslosigkeit, die aus dieser Inhaftierung resultiere, nicht als "unverschuldet" im Sinne von Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 angesehen werden könne.

Zum anderen muss nach der Rechtsprechung , damit die Rechte des türkischen Arbeitnehmers aus Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 nicht ausgehöhlt werden, diese Vorschrift dahin ausgelegt werden, dass sie nicht allein die Ausübung einer Beschäftigung erfasst, sondern dem Betroffenen, der bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats eingegliedert ist, ein uneingeschränktes Recht auf Beschäftigung verleiht, das zwangsläufig auch das Recht umfasst, eine Erwerbstätigkeit aufzugeben, um eine andere zu suchen, die er frei wählen kann (Urteil Nazli, Randnr. 35). Denn anders als der erste und der zweite Gedankenstrich dieser Vorschrift verlangt der dritte Gedankenstrich nicht die grundsätzlich ununterbrochene Ausübung einer Beschäftigung.

Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass ein solcher türkischer Arbeitnehmer das Recht hat, sein Arbeitsverhältnis vorübergehend zu unterbrechen. Trotz einer derartigen Unterbrechung gehört er für den Zeitraum, der angemessen ist, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats an. Er hat daher in diesem Staat Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiter sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, sofern er tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden (vgl. in diesem Sinne Urteile Tetik, Randnrn. 30, 31, 41, 46 und 48, sowie Nazli, Randnrn. 38 und 40).

Die vorstehende Auslegung , die auf das durch Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführte System und die praktische Wirksamkeit der dem türkischen Arbeitnehmer durch den dritten Gedankenstrich dieser Bestimmung eingeräumten Rechte auf Beschäftigung und Aufenthalt gestützt ist, hat unabhängig davon zu gelten, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats hat, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur ist.

Resultiert, wie im Ausgangsverfahren, die fehlende Ausübung einer Beschäftigung aus einer Inhaftierung des Arbeitnehmers, so sind deren Modalitäten grundsätzlich unbeachtlich, wenn die Abwesenheit des betreffenden türkischen Staatsangehörigen vom Arbeitsmarkt zeitlich begrenzt ist.

Wie aus dem Urteil vom 29. April 2004 in den Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 (Orfanopoulos u . a., Slg. 2004, -I5257, Randnr. 50) hervorgeht, ist die mit dem Urteil Nazli getroffene Entscheidung daher nicht so zu verstehen, dass sie auf die besonderen Umstände jener Rechtssache beschränkt ist, die darin bestanden , dass der betreffende Arbeitnehmer länger als ein Jahr in Untersuchungshaft gehalten und anschließend zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, deren Vollstreckung vollständig zur Bewährung au sgesetzt wurde. Diese Entscheidung ist vielmehr aus den gleichen Gründen uneingeschränkt auf eine vorübergehende Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt wegen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung übertragbar. Insbesondere ist der Umstand unbeachtlich, dass die Inhaftierung den Betroffenen ­- auch langfristig -­ an der Ausübung einer Beschäftigung hindert, wenn sie nicht seine weitere Teilnahme am Erwerbsleben ausschließt.

Die nationalen Behörden können daher außer in den Fällen, in denen der Betroffene dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats endgültig nicht mehr angehört, weil er objektiv keine Möglichkeit mehr hat, sich in den Arbeitsmarkt wiedereinzugliedern, oder in denen er den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach dem Ende seiner Inhaftierung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden, die Rechte, die er aus Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 im Bereich der Beschäftigung und des Aufenthalts herleiten kann, nur aufgrund des Artikels 14 Absatz 1 dieses Beschlusses einschränken (vgl. Urteil Nazli, Randnr. 44).

Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass sich bereits aus der Rechtsprechung ergibt, dass eine Ausweisungsmaßnahme, die auf die letztgenannte Bestimmung gestützt ist, nur dann beschlossen werden kann, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet. Eine solche Maßnahme kann daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden (vgl. Urteil Nazli, Randnrn. 61, 63 und 64).

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, dieses Recht nicht deswegen verliert, weil er während seiner ­- auch mehrjährigen -­ Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nur vorübergehend ist. Die Rechte, die dem Betroffenen durch diese Bestimmung im Bereich der Beschäftigung und entsprechend im Bereich des Aufenthalts eingeräumt werden, können nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gemäß Artikel 14 Absatz 1 dieses Beschlusses oder aufgrund des Umstands beschränkt werden, dass der betreffende türkische Staatsangehörige den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach seiner Freilassung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Ein türkischer Staatsangehöriger, der nach Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem aufgrund des Abkommens über eine Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzten Assoziationsrat erlassen wurde , ein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, verliert dieses Recht nicht deswegen, weil er während seiner ­- auch mehrjährigen -­ Inhaftierung keine Beschäftigung ausübt, wenn seine Abwesenheit vom regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats nur vorübergehend ist. Die Rechte, die dem Betroffenen durch diese Bestimmung im Bereich der Beschäftigung und entsprechend im Bereich des Aufenthalts eingeräumt werden, können nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gemäß Artikel 14 Absatz 1 dieses Beschlusses oder aufgrund des Umstands beschränkt werden , dass der betreffende türkische Staatsangehörige den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach seiner Freilassung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden.