BlueSky

VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 02.03.2005 - 12 TG 455/05 - asyl.net: M6840
https://www.asyl.net/rsdb/M6840
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Türken, Arbeitnehmer, Familienangehörige, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Schutz von Ehe und Familie, Haft, Entscheidungszeitpunkt, Ist-Ausweisung, Regelausweisung, Ermessensausweisung, Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Sozialprognose, Strafaussetzung, Ermessen, Volljährige Kinder
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die §§ 47 und 48 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54 AufenthaltsG) scheiden als Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Antragstellers aus, weil er als in Deutschland geborenes Kind eines türkischen Arbeitnehmers die aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 inne hat. Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, 11.11.2004 - C 487/02, InfAuslR 2005, 13) ist inzwischen geklärt, dass auch volljährig gewordene Kinder eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaats angehört oder angehört hat, von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erfasst werden, wenn diese im Aufnahmemitgliedstaat geboren sind und stets dort gewohnt haben und ferner, dass die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht durch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, die mit längerer Abwesenheit vom Arbeitsmarkt verbunden ist, verloren gehen sowie schließlich, dass es Art. 14 ARB 1/80 gebietet, in diesen Fällen auch Tatsachen zu berücksichtigen, die nach dem Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides eingetreten sind und für den Betroffenen sich günstig auswirken (siehe zu dieser Rechtsprechung des EuGH bereits Hess. VGH, 29.12.2004, 12 TG 3649/04).

Hieraus ergibt sich, dass der Antragsteller, weil er ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzt, nur noch nach den für Unionsbürger geltenden materiellen Grundsätzen und nur noch auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gem. §§ 45, 46 AuslG (jetzt: § 55 AufenthaltsG) ausgewiesen werden darf (siehe dazu im Einzelnen: BVerwG, 03.08.2004 - 1 C 29/02 -, InfAuslR 2005, 26, m.w.N. aus der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH). Diesen rechtlichen Grundsätzen entsprechen die beiden angefochtenen Bescheide nicht.

Sie können auch nicht als Ermessensausweisung (§ 45 Abs. 1 und 2 AuslG bzw. jetzt: § 55 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthaltsG) aufrechterhalten werden. Die Ausweisung des Antragstellers setzt schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung voraus (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 AuslG bzw. § 56 Abs. 1 Nr. 2 AufenthaltsG) und kann ferner nach Maßgabe von Art. 14 ARB 1/80 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sein (s. auch § 55 Abs. 1 AufenthaltsG). Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn sich eststellen lässt, das Verhalten des Antragstellers bis zum heutigen Zeitpunkt begründe die Gefahr, er werde auch in Zukunft erhebliche Straftaten begehen. Eine derartige Feststellung lässt sich nach Auffassung des Senats nicht treffen.

Vielmehr spricht bezogen auf den heutigen Zeitpunkt (wahrscheinlich auch schon bezogen auf den Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheides) Überwiegendes dafür, dass für den Antragsteller eine positive Prognose hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten zu stellen ist.

Ohne dass es auf die Entscheidung noch ankommt, besteht schließlich noch Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Annahme in der Ausgangsverfügung vom 8. September 2004, der Antragsteller genieße nicht den Schutz des Art. 8 EMRK, weil er bereits volljährig und nicht auf die Lebenshilfe seiner Eltern bzw. Geschwister angewiesen sei, rechtlich unzutreffend ist. Nach der einhelligen Auslegung durch die maßgebliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umfasst der Begriff des Familienlebens die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern unabhängig vom Alter der Kinder, und staatliche Maßnahmen, die in dieses Recht eingreifen, bedürfen der Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK (siehe die Nachweise bei Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, Art. 8 EMRK Rdnr. 18; siehe ferner die Wiedergabe der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK bei BVerfG, 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, S. 317 ff. (319, rechte Spalte). Hiernach unterfällt der Antragsteller dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK und seine Ausweisung bedarf der Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK, wobei bei volljährigen Kindern, die nicht auf Grund besonderer Umstände auf die Unterstützung von Eltern oder Geschwistern angewiesen sind, das Gewicht des Schutzes der Familieneinheit geringer ist als bei einem tatsächlich gelebten Familienleben zwischen Eltern und minderjährigen Kindern (siehe BVerfG, a.a.O.; Hess. VGH, 14.01.2004 - 12 TG 3221/03 -, InfAuslR 2004, 147; siehe ferner EGMR, 02.08.2001 - 54273/00 -, InfAuslR 2001, 476).