VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 22.02.2005 - VG 25 A 6.05 - asyl.net: M6829
https://www.asyl.net/rsdb/M6829
Leitsatz:
Schlagwörter: Ausweisung, Regelausweisung, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Besonderer Ausweisungsschutz, Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Spezialprävention, Imam, Ermessen, Ermessensausweisung, Religionsfreiheit, Sofortvollzug, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 14; AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 4; AuslG § 8 Abs. 1 Nr. 5; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AuslG § 45 Abs. 2; GG Art. 4
Auszüge:

Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet.

Bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als rechtmäßig. Da auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung besteht, überwiegt das private Interesse des Antragstellers, vorerst vom Vollzug der Ausweisung verschont zu bleiben, dem gegenüber nicht.

Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 AuslG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt.

Die öffentliche Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist insbesondere beeinträchtigt, wenn ein Tatbestand der die Vorschrift des § 45 Abs. 1 AuslG spezifizierenden §§ 46 und 47 AuslG erfüllt ist. Vorliegend hat der Antragsteller den Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 4 AuslG verwirklicht. Danach wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn ihm gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu versagen wäre. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet ist. Der Begriff der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland erfasst die innere und äußere Sicherheit des Staates, die durch die Fähigkeit bestimmt wird, sich nach innen und außen gegen Angriffe und Störungen zur Wehr zu setzen. Erforderlich ist eine Gefährdung des genannten Schutzgutes durch die Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet. Eine solche liegt vor, wenn dieser Handlungen begeht, die geeignet sind, das ordnungsgemäße Funktionieren staatlicher Einrichtungen zur Gewährleistung des inneren und äußeren Friedens zu beeinträchtigen; dies ist grundsätzlich der Fall, wenn bei öffentlichen Aufrufen zur Gewalt aufgerufen oder die Anwendung von Gewalt verherrlicht wird (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2003, § 8 Rz. 43 f.).

Vorliegend hat sich der Antragsteller bei der Kundgebung unter dem Titel "Sofortiger Stopp der Unmenschlichkeit im Namen der Demokratie im Irak und Verurteilung des brutalen Vorgehens des israelischen Militärs in Palästina" auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg am 12. Juni 2004 vor etwa 450 überwiegend türkischen Teilnehmern unter anderem wie folgt in türkischer Sprache geäußert:

"(...) Gnade uns um derentwillen, deren Namen neben deinem Namen erwähnt werden, um der Märtyrer willen, die ihr Blut im Irak vergießen, um der Lämmer willen, die gestern und heute in Jerusalem, in Bagdad und Kerbela ihr Leben lassen, lass uns nicht zusammen mit den Ungläubigen in deinem Feuer verbrennen (...) Sollte uns in jenem Land, in diesem Land, noch bevor der Vogel unserer Seele unseren als Käfig dienenden Körper verlässt, der Märtyrertod vergönnt sein, dann lasse uns den schönsten des Märtyrertodes zuteil werden. (...)" Der Antragsteller beendete seine Rede mit den Worten "Gesegnet sei Euer Kampf, angesehen sei Euer Kampf vor den Augen Gottes".

Hierbei handelt es sich um gewaltverherrlichende Äußerungen. Maßstab für das Verständnis des Textes muss die konkrete zeitgeschichtlich-politische Situation und der Empfängerhorizont eines durchschnittlichen Teilnehmers jener Kundgebung auf dem Oranienplatz sein. Dass es sich bei dem vorgetragenen Gebet um ein in den frühen achtziger Jahren, also, wie der vom Antragsteller beauftragte Gutachter betont, ein "definitiv vor der ersten Intifada" verfasstes Gedicht des islamischen Mystikers Yahyali Hasanefendi handelt, wird den meisten Teilnehmern der Veranstaltung nicht bekannt gewesen sein.

Der Antragsteller genießt, da er seit 1983 im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung ist, besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG. Danach ist seine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung möglich. Schwerwiegende Gründe in diesem Sinne liegen vor, wenn das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches Übergewicht hat. Bei einer spezialpräventiv motivierten Ausweisung muss dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommen, und es müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (BVerwG, Urteil vom 16. November 1999 - 1 C 1 1.99 - InfAuslR 2000, 105, 107 f.; Urteil vom 28. Januar 1997 - 1 C 17.94 - NVwZ 1997, 1119 f.).

Vorliegend hat der Antragsteller mit seinen am 12. Juni 2004 getätigten Äußerungen in erheblichem Maße ein hochrangiges Schutzgut, nämlich die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, gefährdet. Eine wirkliche Abkehr von seinen dort getätigten Äußerungen hat der Antragsteller nicht vollzogen.

Das ihr nach Erfüllung des Tatbestandes § 45 Abs. 1 AuslG eröffnete Ermessen hat die Ausländerbehörde fehlerfrei ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO). Insbesondere hat sie die in § 45 Abs. 2 AuslG genannten Belange vollständig in ihre Ermessenserwägungen einbezogen und beanstandungsfrei dahin gewichtet, dass ihnen gegenüber der Schwere des Ausweisungsgrundes sowie der vom Antragsteller ausgehenden Gefährdung keine ausschlaggebende Bedeutung zukommt.

Gleichfalls rechtlich nicht zu beanstanden ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Sie entspricht dem Formerfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Es besteht auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung, das über das öffentliche Interesse hinausgeht, das diese Maßnahme als solche rechtfertigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 12.9.1995, NVwZ 1996, 58 ff.) bedarf es in den Fällen, in denen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes auf spezialpräventive Gesichtspunkte gestützt werden soll, der Feststellung begründeter Anhaltspunkte, dass - unter Berücksichtigung der Pflicht der Verwaltungsgerichte, das Hauptsacheverfahren beschleunigt zu betreiben - die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr in der Zeitspanne bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens besteht. Außerdem müssen die für diesen Zeitraum festzustellenden Gefahren für die Belange der Bundesrepublik Deutschland von solchem Gewicht sein, dass sie schutzwürdige Interessen des Ausländers an der Erhaltung des Suspensiveffekts überwiegen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. In der Person des Antragstellers besteht die begründete Gefahr, dass er auch während der Dauer des von ihm betriebenen Verfahrens gegen die Ausweisung die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und die öffentliche Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße gefährden wird. Eine Abkehr des Antragstellers von den von ihm am 12. Juni 2004 geäußerten Positionen ist nicht erkennbar; vielmehr hat er im Gespräch vom 19. November 2004 und durch sein schriftsätzliches Vorbringen den Versuch unternommen, diese zu bagatellisieren oder in Abrede zu stellen. Mit den in der Freitagspredigt, deren Ausschnitte am 9. November 2004 ausgestrahlt wurden, getätigten Äußerungen, die letztlich nur zufällig bekannt wurden, da das Kamerateam, wie der Antragsteller zunächst angegeben hatte, über den vereinbarten Rahmen hinaus gefilmt hatte, hat er ein zweites Mal innerhalb weniger Monate den gesellschaftlichen Frieden und damit den Grundkonsens des Zusammenlebens der deutschen Mehrheitsbevölkerung und nichtdeutscher Bevölkerungsgruppen erheblich gestört. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und die öffentliche Ordnung, sofern sie in ihrem Kernbereich, des friedlichen Zusammenlebens ethnisch wie religiös verschiedener Bevölkerungsgruppen betroffen ist, sind aber so überragend hohe Schutzgüter, dass regelmäßig ein zwingendes öffentliches Interesse an der sofortigen Entfernung des Ausländers aus der Bundesrepublik Deutschland besteht. Angesichts dessen überwiegen die schutzwürdigen Interessen des Antragstellers an der Erhaltung des Suspensiveffekts das überragende öffentliche Vollzugsinteresse nicht.