OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 23.06.2005 - 2 R 16/03 - asyl.net: M6818
https://www.asyl.net/rsdb/M6818
Leitsatz:

Tschetschenischen Volkszugehörigen steht vor einer eventuell drohenden regionalen Gruppenverfolgung eine inländische Fluchtalternative in Russland offen.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, russische Volkszugehörige, Gemischt-ethnische Ehen, Mischehen, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Inguschetien (A), Freizügigkeit, Registrierung, Existenzminimum, Personenkontrollen, Erreichbarkeit, Pass
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Tschetschenischen Volkszugehörigen steht vor einer eventuell drohenden regionalen Gruppenverfolgung eine inländische Fluchtalternative in Russland offen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Den Klägern steht kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des inzwischen an die Stelle des ehemaligen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots getretenen § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation zu.

Auszuschließen ist zunächst eine Verfolgung aller tschetschenischen Volkszugehörigen im (gesamten) Staatsgebiet der Russischen Föderation und zwar sowohl für den Ausreisezeitpunkt der Klägerin als auch für die heutige Situation. Das vorhandene Auskunftsmaterial rechtfertigt bei Anlegung der hierzu in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten strengen Maßstäbe nicht die Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung.

Weniger klar erscheint die Beantwortung der Frage, ob bezogen auf das Territorium von Tschetschenien bei einer auf dieses Gebiet beschränkten Betrachtung das Vorliegen der genannten Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung bejaht werden muss (vgl. zur Abgrenzung und den Unterschieden "regionaler" und "örtlich begrenzter" Gruppenverfolgung grundlegend BVerwG, Urteil vom 9.9.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204 ff., die unterschiedliche Formen der Kollektivverfolgung mit differierender Bedrohungslage darstellen und denen gemeinsam ist, dass der verfolgende oder der zum Schutz verpflichtete Staat Übergriffe gegen Gruppenmitglieder nur in bestimmten Teilen seines Staatsgebiets begeht oder duldet, während sich solche für andere Teile des Territoriums nicht feststellen lassen). Hierfür mag es trotz anders lautender obergerichtlicher Entscheidungen aus jüngerer Vergangenheit (vgl. hierzu OVG Weimar, Urteil vom 16.12.2004 - 3 KO 1003/04) insbesondere seit Beginn der erneuten, von der russischen Führung als "antiterroristische Operation" bezeichneten militärischen Auseinandersetzungen ab Ende 1999, die nach weitgehender "Zurückeroberung" des tschetschenischen Territoriums durch russisches Militär in einen bis heute, also auch nach dem Abschluss der offenen kriegerischen Auseinandersetzungen im Jahre 2003 andauernden Guerilla-Krieg mündeten, Anhaltspunkte geben (vgl hierzu etwa die Beschreibung der allgemeinen Lage in Tschetschenien ab Seite 4 des vorerwähnten Lageberichts des AA vom 13.12.2004, 508-516.80/3 RUS; wonach die heutige Situation militärisch dadurch gekennzeichnet ist, dass die russischen Sicherheitskräfte die in unwegsame Wald- und Berggebiete zurückgewichenen tschetschenischen Kämpfer systematisch auszuschalten und zu vernichten versuchen; amnesty international, Jahresberichte 2004, Seiten 520 ff.)

Selbst wenn man aber insoweit das Vorliegen einer "regionalen Gruppenverfolgung" ethnischer Tschetschenen im Sinne der angesprochenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 9.9.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204 ff.) seit dem Ausbruch des die vorherige faktische Autonomie Tschetscheniens beendenden Zweiten Tschetschenienkrieges und - davon ausgehend - vorliegend mit Blick auf den Ausreisezeitpunkt der Klägerin eine Relevanz unter dem Gesichtspunkt eines so genannten objektiven Nachfluchtgrundes - unter weiterer Hintanstellung der Frage des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative für Tschetschenen schon bei Ausbruch der Kampfhandlungen (vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Aspekts in dem Zusammenhang insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen Aspekte der Fluchtaltemative wie vor, Seite 212) - unterstellt und trotz individuell unverfolgter Ausreise in ihrem Fall den für die Konstellation der Vorverfolgung im Asyl- und Flüchtlingsrecht (vgl. in dem Zusammenhang allgemein BVerfG; Beschlüsse vom 26.11.986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51, und vom 10.7.1989 2 BvR 502 u.a./86 -, BVerGE 80, 315 sowie im Anschluss daran BVerwG, Urteile vom 19.5.1987 - 9 C 184.86 -, BVerwGE 77, 258 und vom 15.5.1990 - 9 C 17.89-, BVerwGE 85 139, wonach das echte Asylgrundrecht (Art. 16a GG) vom Ansatz her nur Vorfluchttatbestände und nur ausnahmsweise Nächfluchtgründe erfasst, zur weiter gehenden Berücksichtungsfähigkeit selbst so genannter selbst geschaffener (subjektiver) Nachfluchtgründe in dem auch § 60 Abs. 1 AufenthG zugrunde liegenden Art. 33 Abs. 1 GK etwa Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage 1999, § 51 AuslG, RNr. 9, m.w.N.) geltenden "herabgestuften" Prognosemaß für die Feststellung einer Rückkehrgefährdung im Verständnis des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zugrunde legt, so könnte ihr Anerkennungsbegehren keinen Erfolg haben. Der Klägerin stünde in diesem Fall, wie das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil zutreffend und in Übereinstimmung mit der insoweit ersichtlich einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. etwa OVG Lüneburg, Beschluss vom 3.7.2003 - 13 LA 90/03 -; AuAS 2003, 203-203, in dem auf die entsprechende ständige Entscheidungspraxis und insoweit als Beleg auf die Beschlüssen vom 27.11.2002 -13 LA 321/02 - vom 25.9.2002 -13 LA 238/02 - vom 11.6.2002 13 LA 72/02 -, vom 27.11.2002 - 13 LA 326/02, vom 20.6.2002 - 13 LA 138/02 und vom 14.6.2002 - 13 LA 151/02- hingewiesen wird, OVG Schleswig, Urteile vom 24.4.2003 - 1 LB 212/01 und 1 LB 213/01 -, Beschluss vom 7.10.2004 - 1 LA 79/04 -, OVG Weimar, Urteil vom 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -, zuletzt ebenso VGH München, Urteil vom 31.1.2005 - 11 B 02.31597 - Asyldokumentation) entschieden hat, eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zur Verfügung. Die Klägerin wäre im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation ungeachtet ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit zum einen "hinreichend sicher" vor politischer Verfolgung und hätte zum anderen dort auch "grundsätzlich die Möglichkeit zum Überleben", und das hätte nach dem zuvor Gesagten - seine Verfolgungsgefährdung in Tschetschenien immer unterstellt - erst recht für den russischen Kläger zu gelten.

Das gilt auch, wenn man - wovon eigentlich alle Quellen übereinstimmend, wenngleich in unterschiedlichen Ausmaßen, berichten - davon ausgeht, dass das in der Verfassung der Russischen Föderation garantierte Recht auf Freizügigkeit, insbesondere hinsichtlich der Wahl des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthaltsortes, in der Praxis ungeachtet der 1993 durch das so genannte Föderationsgesetz eingeführten vereinfachten Registrierungsmöglichkeiten (vgl. dazu etwa im einzelnen den Lagebericht des AA vom 13.12.2004 -, 508-516.80/3. RUS, Seiten 13 f., Abschnitt III.2, wonach die Neuregelung die Schaffung eines Registrierungssystems am gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") oder am Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") beinhaltet, bei dem die Bürger sich (lediglich) an den jeweiligen Orten anmelden, wohingegen das davor geltende "Propiska-System" neben der Meldung auch eine Gestattung oder Verweigerung der Wohnsitznahme durch die zuständigen Innenbehörden vorsah) an zahlreichen Orten der Russischen Föderation nicht gleichermaßen uneingeschränkt in Anspruch genommen werden kann, und der Zuzug von Vertriebenen des Tschetschenienkriegs - auch wegen Ressentiments gegen Personen kaukasischer Herkunft - jedenfalls was eine an den Wohnsitznachweis geknüpfte Dauerregistrierung angeht, stark erschwert wird. Nach Überzeugung des Senats lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass es tschetschenischen Volkszugehörigen außerhalb der zuvor erwähnten "Problemzonen" in der Russischen Föderation "flächendeckend" nicht möglich wäre, unter Inanspruchnahme der geschilderten rechtlichen Garantien in der ein oder anderen Weise einen gesicherten Aufenthalt zu begründen. In dem Zusammenhang hat der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 23.6.2005 zu Recht darauf hingewiesen, dass insbesondere die Menschenrechtsorganisation MEMORIAL an vielen Orten der Russischen Föderation eine Vielzahl von Unterstützungsstellen für betroffene Binnenflüchtlinge insbesondere aus Tschetschenien unterhält, mit deren Hilfe auch in einer Reihe von Fällen willkürlicher behördlicher Verweigerung der Aufenthaltsberechtigung erfolgreich entgegen getreten werden konnte (vgl. auch dazu die Einzelfallschilderungen im Abschnitt V. des Berichts der Svetiana Gannuschkina vom Menschenrechtszentrum MEMORIAL, Netzwerk Migration und Recht, "Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation", 2004). Die teilweise rechtswidrigen behördlichen Praktiken in bestimmten Teilen Russlands sind ferner mehrfach von Seiten des russischen Menschenrechtsbeauftragten und durch das Oberste Verfassungsgericht Russlands im Rahmen von Entscheidungen zugunsten registrierungswilliger Bürger beanstandet worden (vgl. hierzu beispielsweise OVG Weimar, Urteil vom 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -; Seite 41 mit Quellennachweisen). Das belegt allein die unstreitig in die Hunderttausende gehende Zahl der in der Russischen Föderation dauerhaft verbliebenen Binnenflüchtlinge aus Tschetschenien, von denen trotz einer allgemeinen politischen Zielsetzung, die Rückkehr nach Tschetschenien zu befördern, nicht bekannt ist, dass sie, sieht man einmal von dem geschilderten Sonderfall der Nachbarrepublik Inguschetien ab, derart drangsaliert oder unter Druck gesetzt würden, dass ein Verbleib an den jeweiligen Zufluchtsorten in nennenswerter Zahl zwangsweise beendet würde (vgl. dazu das Zahlenmaterial in Abschnitt II.2 des Lageberichts des AA vom 13.12.2004, 508-516.80/3 RUS- Seiten 9 f., wonach sich etwa 10.000 Flüchtlinge in Dagestan aufhalten, in praktisch allen russischen Großstädten eine derzeit noch wachsende tschetschenische Diaspora findet, welche beispielsweise allein in Moskau ca. 200.000 Personen umfasst und allein in der Wolgaregion weitere 50.000 Tschetschenen leben).

Der in der mündlichen Verhandlung unter Vorlage eines Internetauszugs bekräftigte Verweis der Kläger auf einen in der Rechtsprechung vielfach thematisierten angeblich im zeitlichen Zusammenhang mit dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkriegs beziehungsweise der Inangriffnahme der antiterroristischen Operationen in der Region ergangenen "Befehl" Nr. 541 des früheren russischen Innenministers Ruschajlo vom 17.9.1999 rechtfertigt keine abweichende Beurteilung (vgl. dazu VGH München, Urteil vom 31.1.2005 -11 B 02.31597 -, Seiten 28 f., dort 6). Nach derzeitiger Erkenntnislage muss mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesem "Befehl" um eine Fälschung handelt (vgl. dazu beispielsweise die auf direkte entsprechende Erkundigungen beim Innenministerium der Russischen Föderation abhebende Auskunft des AA vom 26.4.2002 - 508-516.80/39 439).

Eine Unzumutbarkeitt der Verweisung der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative lässt sich auch nicht aus dem Umstand herleiten, dass es insbesondere in Moskau und in anderen Großstädten Russlands, die aufgrund ihrer Struktur für terroristische Aktivitäten besonders sensible Bereiche und "anfällige Ziele" darstellen, gegenüber Personen kaukasischer Herkunft vergleichsweise vermehrt zu Personenkontrollen und, gerade bei fehlender Legitimierung, auch zu weitergehenden polizeilichen Maßnahmen kommt. Auch unter hiesigen rechtsstaatlichen Aspekten müssen es selbst ansonsten individuell zunächst "unverdächtige" Personen, die einer abgrenzbaren Gruppe angehören, von der im Vergleich zu anderen Bevölkerungskreisen eine erhebliche erhöhte Gefährdung für die Gesamtbevölkerung ausgeht, hinnehmen, dass sie in statistisch vermehrtem Maße im Interesse der Sicherheit aller Staatsbürger Kontrollen und Untersuchungen mit den damit verbundenen polizeilichen Eingriffsmaßnahmen, etwa erkennungsdienstlicher Behandlung unterzogen werden.

Auch die wirtschaftlichen Zumutbarkeitskriterien für die Annahme einer gegenüber dem Flüchtlingsschutz im Aufnahmeland vorrangigen inländischen Fluchtalternative sind gegeben. Dass die Rückkehrer keine einfachen, sondern unter vielen Aspekten schwierige Lebensverhältnisse vorfinden werden, ist, wie schon das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, nicht in Abrede zu stellen. Es findet sich in der Dokumentation kein Bericht darüber, dass es in den nach Auffassung des Senats als solche in Betracht kommenden Bereichen der Russischen Föderation, in denen insgesamt Hunderttausende von vor den kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien geflohenen oder auch bereits zuvor nach Russland umgezogenen Tschetschenen als Binnenflüchtlinge eine Bleibe gefunden haben, gerade unter diesem Personenkreis zu gravierenden Versorgungsengpässen oder gar zu personenübergreifenden Hungersnöten oder vergleichbaren überindividuellen humanitären Katastrophen gekommen wäre.

Des ungeachtet erschiene ohnedies zweifelhaft, ob - gegebenenfalls - das Fehlen eines wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative im konkreten Fall angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation in der Heimatregion Tschetschenien auch schon bei Wegzug der Kläger und erst recht heute überhaupt als verfolgungsbedingt und - nur dann - erheblich für die rechtliche Beurteilung eingestuft werden könnte. Derartige am verfolgungssicheren Ort drohende, nicht durch eine politische Verfolgung bedingte Gefahren schließen diesen Ort als inländische Fluchtalternative nur aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort nicht bestünde (vgl. dazu die Rechtsprechungsnachweise in BVerwG, Urteil vom 9.9.1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204, 211, wonach dem die Überlegung zugrunde liegt, dass dem regional Verfolgten zwar nicht zugemutet werden darf, sich in eine existentielle Notlage zu begeben, um der Verfolgung zu entgehen, dass er indes dann durch die Wohnsitznahme am verfolgungssicheren Ort keine verfolgungsbedingte und darum unzumutbare Verschlechterung seiner Lebensverhältnisse erleidet, wenn er dieser Notlage bereits an seinem Herkunftsort ausgesetzt war; letzteres wird bejaht beispielsweise für die vorliegende Thematik in OVG Schleswig, Urteil vom 24.4.2003 - 1 LB 213/01 -, S. 18).

Dass die Kläger die als.Fluchtalternativen in Betracht kommenden Gebiete der Russischen Föderation schließlich - was im Rechtssinne die Annahme einer den Anspruch aus § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausschließenden inländischen Fluchtalternative voraussetzt - auch tatsächlich erreichen können, unterliegt aus Sicht des Senats ebenfalls keinen durchgreifenden Bedenken.