VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 14.04.2005 - 8 K 429/03 - asyl.net: M6804
https://www.asyl.net/rsdb/M6804
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Kroaten, Ausweisung, Straftäter, Diebstahl, Gefährliche Körperverletzung, Drogendelikte, Jugendstrafe, Freiheitsstrafe, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Übergangsvorschriften, Beurteilungszeitpunkt, Regelausweisung, Strafaussetzung zur Bewährung, Zurückstellung, Aussetzung der Vollstreckung, Vorbewährung, Atypischer Ausnahmefall, Wiederholungsgefahr, Besonderer Ausweisungsschutz, Schutz von Ehe und Familie
Normen: AuslG § 45 Abs. 1; AuslG § 46 Nr. 2; AufenthG § 102 Abs. 1 S. 1; AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 1; JGG § 57 Abs. 1 S. 1 2. HS; AufenthG § 60a; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1; EMRK Art 8; GG Art. 6
Auszüge:

Die angefochtene Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Tübingen - Bezirksstelle für Asyl - vom 24.02.2003 ist einschließlich der Androhung der Abschiebung rechtmäßig.

Der Erfolg des Begehrens des Klägers ist nach den §§ 45 ff. des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBI. I S. 1354) in der Fassung des Gesetzes vom 9. Januar 2002 ( GBI. I S. 361) - AuslG - zu beurteilen. Denn maßgeblich für die Rechtmäßigkeit der vom KIäger angefochtenen Ausweisungsverfügung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bleiben sowohl belastende als auch begünstigende ausländerrechtliche Maßnahmen, die vor dem 01.01.2005 getroffen wurden, wirksam. Maßgebend für § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist nach dessen Wortlaut ("getroffen") der Zeitpunkt in dem der Verwaltungsakt durch Bekanntgabe (vgl. §§ 43, 41 LVwVfG) wirksam wird und nicht der Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts. Für die Frage, ob (noch) das alte Recht - hier das AuslG - oder ob das neue Recht - hier das AufenthG - anwendbar ist, kommt es somit entscheidend auf den im jeweiligen Rechtsstreit maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt an.

Denn bei der Frage des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts geht es u. a. gerade darum, welche Rechtslage das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen muss, bei einer gerichtlichen Prüfung der Rechtmäßigkeit einer ausländerrechtlichen Maßnahme, welche Rechtslage zu welchem Zeitpunkt hierfür maßgeblich ist (vgl. Armbruster, HTK-AuslR / § 102 AufenthG - bei Gericht anhängige Verfahren 12/2004 Nr. 4.1). Sind keine Sonderregelungen wie z. B. § 104 AufenthG einschlägig, so kommt es auf den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei der konkreten ausländerrechtlichen Maßnahme an. Der zur Beurteilung der Rechtslage maßgebliche Zeitpunkt bestimmt sich dabei - wie auch sonst im Verwaltungsprozessrecht - nach dem jeweiligen Begehren des Klägers.

Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich die Sach- und Rechtslage maßgeblich, die im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung bestand (vgl. z.B. BVerwG, Urt. v. 26.02.2002 - 1 C 21.00 -, BVerwGE 116, 55, 65f.; BVerwG Beschl. v. 16.10.1989 - 1 B 106/89 -, VBIBW 1990, 223; ebenso VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.11.2002 - 11 S 1270/02 - jeweils m. w. N.).

Auch materiell-rechtlich ist die Ausweisung des Klägers rechtmäßig erfolgt.

Rechtsgrundlage bilden allerdings nicht - wie das Regierungspräsidium in seiner Verfügung angenommen hat - die §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG. Für die Ausweisung des Klägers einschlägig ist vielmehr bereits § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG. Danach wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er u. a. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger vor.

Der Kläger ist durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Ravensburg vom 24.06.2002 unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Ravensburg vom 01.10.2001 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Die Vollstreckung dieser Jugendstrafe ist - entgegen der Auffassung der Beteiligten - auch nicht zur Bewährung ausgesetzt worden. Ausweislich des Urteilstenors hat das Jugendschöffengericht lediglich die Entscheidung über die "mögliche nachträgliche Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung" bis zum 31.12.2002 zurückgestellt. Diese Verfahrensweise steht nach Auffassung der Kammer der Aussetzung der Vollstreckung einer Jugendstrafe zur Bewährung im Sinne des § 47 Abs. 2 Nr.1 AuslG a. E. jedenfalls dann nicht gleich, wenn es - wie hier mit Beschluss des Amtsgerichts Ravensburg vom 04.09.2002 - zu einer nachträglichen Anordnung der Vollstreckung kommt.

Letztlich bedarf es keiner abschließenden Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage auch für den Fall, dass nachträglich gemäß § 57 Abs. 1 JGG die Bewährungsaussetzung angeordnet wird. Denn jedenfalls, wenn - wie hier - die "Vorbewährung" fehlschlägt und deshalb vom Jugendgericht die Vollstreckung der Jugendstrafe nachträglich angeordnet wird, kommt § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG zur Anwendung. Ein prinzipielles Absehen von der Regelwirkung ist in diesem Fall unter keinem Aspekt gerechtfertigt, da mit der nachträglichen Vollstreckungsanordnung endgültig feststeht, dass der Verurteilte sich nicht schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftat mehr begehen wird.

In den Fällen der sog. Regelausweisung hat die Ausländerbehörde nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte kein Ermessen, wenn die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Regelausweisung gegeben sind und kein Ausnahmefall vorliegt.

Atypische Umstände, die den Kläger vergleichbar mit anderen Regelausweisungsfällen entscheidend entlasten oder aufgrund derer die Ausweisung als unangemessene Härte erscheint, sind hier nicht gegeben.

Ein Ausnahmefall liegt nicht (bereits) aufgrund besonderer Umstände der strafgerichtlichen Verurteilungen des Klägers vor. Besondere Umstände hinsichtlich einer Straftat können im Einzelfall u. a. vorliegen bei Straffälligkeit aufgrund einmaliger Ausnahmesituation, Verurteilung zu einer Mindeststrafe, sonstige Unbescholtenheit des Ausländers, bei konkreter Gefahr der Doppelbestrafung oder bei Absehen von Strafe nach § 28 Abs. 5 BtMG und Bereitschaft zu Entziehungsmaßnahmen (vgl. Armbruster, HTK- AuslR / Abgrenzung Regelfall zu Ausnahmefall 01/2004). Dafür, dass beim Kläger eine derartige Situation vorgelegen hätte und sein Verhalten daher nach seinem Gewicht von dem in § 47 Abs. 2 Nr. 2 AuslG als RegelfalI ins Auge gefassten Bild kriminellen Handelns erheblich abwiche, ist - auch angesichts dessen, dass das Jugendgericht die Jugendstrafen jeweils mit dem Vorliegen schädlicher Neigungen begründet hat - nichts ersichtlich.

Die Atypik ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht im Hinblick auf die Wiederholungsgefahr.

Die Kammer ist sich durchaus bewusst, dass zum heutigen Zeitpunkt günstige Entwicklungen stattgefunden haben, die im Hinblick auf die Wiederholungsgefahr eine positive Prognose rechtfertigen könnten. Der Kläger hat tatsächlich den Hauptschulabschluss nachgeholt und nach seiner Haftentlassung die von ihm angekündigte Ausbildung aufgenommen. Dabei fällt zugunsten des Klägers besonders ins Gewicht, dass ihm mit der Fa. F. ein ortsansässiger, mittelständischer Betrieb nicht nur einen Hilfsarbeiterjob, sondern einen Ausbildungsplatz angeboten hat, obwohl dem Betriebsinhaber die strafrechtliche Vergangenheit des Klägers nicht verborgen geblieben sein kann. Hinzu kommt, dass der Kläger sich nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung aus dem bisherigen kriminogenen Umfeld gelöst hat und die Ausbildung als Chance sieht, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Gleichwohl können diese positiven Entwicklungen keine Berücksichtigung finden, da sie nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisung liegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.10.1989 - 1 B 106/89).

Zur Klarstellung sieht sich die Kammer allerdings veranlasst, darauf hinzuweisen, dass es dem Kläger im Hinblick auf die Erlangung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) möglich ist, diese Umstände - solange eine Ausreise oder Abschiebung noch nicht erfolgt ist - im Rahmen eines gegen die Abschiebung als solche gerichteten Duldungsverfahrens nach § 60a AufenthG geltend zu machen (vgl. Armbruster, HTK- AuslR / Rechtsschutz / Fallgruppen / Klage gegen eine isolierte Ausweisung 03/2005 Nr. 1).

Eine atypische Fallkonstellation liegt auch nicht im Hinblick auf die persönlichen Lebensumstände des Klägers, insbesondere seine Geburt im Bundesgebiet vor. Seinen familiären Beziehungen und seinem verfestigten Inlandsaufenthalt ist durch Anwendung der Ausweisungsschutzvorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG grundsätzlich ausreichend Rechnung getragen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.11.2002 - 11 S. 1270/02 -). Mit dieser Vorschrift werden die Ausländer der zweiten und folgenden Generationen hinsichtlich des Ausweisungsschutzes Aufenthaltsberechtigten gleichgestellt, sobald ihr Aufenthaltsrecht verfestigt ist. Damit wird berücksichtigt, dass Ausländer, die im Bundesgebiet geboren oder als Minderjährige eingereist sind, gegenüber den als Erwachsene Eingereisten typischerweise einen höheren Integrationsgrad aufweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.2.2002 - 1 C 21.00 -, InfAuslR 2002, 338 <339>). Gleichzeitig macht der Gesetzgeber, indem er diese Gesichtspunkte für regelungsbedürftig hält und die Gewährung besonderen Ausweisungsschutzes an das zusätzliche Erfordernis des Vorliegens einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis knüpft, deutlich, dass sie bei einer Vielzahl der hier lebenden Ausländer gegeben sind - deshalb nicht zwingend eine Besonderheit darstellen -, und - was entscheidend ist - dass Inlandsgeburt oder die Einreise als Minderjähriger für sich genommen noch nicht zu einem besonderen Ausweisungsschutz im Sinne des § 48 Abs.1 Satz 1 AuslG führen sollen.

Die Ausweisung verstößt schließlich auch nicht gegen Art. 8 EMRK.

Da der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK, soweit er sich mit dem des Art. 6 GG deckt, keinen weitergehenden Schutz als dieser vermittelt (vgl. BVerwG, Urt. V. 29.09.1998 - 1 C 8.98-, NVwZ 1999, 303; Urt. v. 17.06.1998, a.a.O.), dürften Einzelkorrekturen gegenüber einem (innerstaatlich nicht zu beanstandenden) Ausweisungsgebot ernstlich nur im Hinblick auf das Schutzgut des "Privatlebens" in Art. 8 Abs. 1 EMRK in Betracht kommen, zu dem die Gesamtheit der in Deutschland gewachsenen Bindungen gehört, wie sie in § 45 Abs. 2 Nr. 1 AuslG umschrieben sind. Ist - wie hier - ein Ausweisungsgrund nach § 47 Abs. 2 AuslG gegeben, wird einer schutzwürdigen Verfestigung des Aufenthalts im Bundesgebiet in der Regel durch den besonderen Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG Rechnung getragen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 28.11.2002 - 11 S 1270102 -). Ein Sonderfall, der hier noch weitergehenden Schutz im Hinblick auf das Privatleben erfordern könnte, liegt aus den bereits genannten Gründen ersichtlich nicht vor.