VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 10.05.2005 - 7 UZ 810/05.A - asyl.net: M6731
https://www.asyl.net/rsdb/M6731
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Überprüfungszeitpunkt, Drei-Jahres-Frist, Ermessen, Anwendungszeitpunkt, Rückwirkung, Altfälle, Übergangsvorschriften, Vertrauensschutz
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AsylVfG § 87b
Auszüge:

Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob § 73 Abs. 2a AsylVfG i. V.m. § 77 Abs. 1 AsylVfG auf Widerrufsentscheidungen des Bundesamts, die vor dem 01.01.2005 bekannt gegeben worden sind, Anwendung findet mit der Folge, dass eine nicht mehr in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Ablauf der 3-Jahres-Frist erlassene, gebundene Widerrufsentscheidung wegen Ermessensnichtgebrauch nachträglich rechtswidrig geworden ist, da ein Widerruf nur als Ermessensentscheidung hätte ergehen können.

Diese Frage bedarf keiner grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren, denn sie beantwortet sich unmittelbar aus dem Gesetz.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt, sodass sich die Rechtmäßigkeit des Widerrufs vom 10.11.2003 nach § 73 AsylVfG in der seit 01.01.2005 geltenden Fassung vom 30.07.2004 (BGBI. I S. 1950) richtet. Demnach ist die Asylanerkennung bzw.die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vormals § 51 Abs. 1 AuslG) bindend zu widerrufen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorliegen und nicht von einem Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG abzusehen ist.

Entgegen der Auffassung des Klägers bestehen offensichtlich, ohne dass dies in einem Berufungsverfahren gesondert grundsätzlich geklärt werden müsste, keine Zweifel daran, dass die Widerrufsentscheidung nicht als Ermessensentscheidung hätte getroffen werden müssen, auch wenn das Bundesamt seine Entscheidung nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Ablauf der in § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG normierten 3-Jahres-Frist erlassen hat. § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG findet aus materiell-rechtlichen Gründen auf vor dem 01.01.2005 wirksam und noch nicht unanfechtbar gewordene Widerrufsentscheidungen keine Anwendung. Dies ergibt sich sowohl aus der Gesetzessystematik als auch aus dem Zweck der Regelung.

Mit § 73 Abs. 2a AsylVfG ist mit Wirkung ab 01.01.2005 gemäß Art. 3 Nr. 46 Buchst. b und Art. 5 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz eine Verfahrensvorschrlft eingeführt worden, die in einem mehrstufigen Verfahren dem eigentlichen Widerruf eine obligatorische, fristgebundene Prüfungspflicht und die Pflicht zur Mitteilung des Ergebnisses der Prüfung an die Ausländerbehörde vorschaltet. Nach der Intention des Gesetzgebers soll mit der Einführung einer obligatorischen Prüfungspflicht spätestens nach Ablauf von 3 Jahren nach einer anerkennenden Entscheidung des Bundesamts erreicht werden, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang leergelaufen sind, an Bedeutung gewinnen; die Ergebnisse der Prüfung sind der Ausländerbehörde mitzuteilen, damit diese über den Aufenthaltstitel befinden kann (amtl. Begründung, BT -Drs. 15/420, 112). Somit dient die Neuregelung zum einen dem öffentlichen Interesse an einer Überprüfung der Schutzbedürftigkeit des Asylberechtigten oder des Ausländers, bei dem das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt hat, zum anderen verfolgt sie ausländerrechtliche Zwecke. Denn die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG setzt eine negative Prüfungsentscheidung des Bundesamts voraus. Der erkennbare Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG verdeutlicht, dass es sich bei der Prüfungs- und Mitteilungspflicht des § 73 Abs. 2a Satz 1 und 2 AsylVfG, an die die nach § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG zu treffende Ermessensentscheidung anknüpft, um einen zukunftsgerichteten Auftrag an das Bundesamt handelt (OVG Nordrhein- Westfalen, U. v. 14.04.2005 - 13 A 654/05.A -). Denn die ausländerrechtliche Zweckrichtung der Prüfungspflicht kann erst mit Inkrafttreten der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen der §§ 25 Abs. 1 und 2, 26 Abs. 3 AufenthG verfolgt werden. Einem anerkannten Asylbewerber steht mit der Neuregelung durch das Aufenthaltsgesetz erst nach einer Übergangszeit von 3 Jahren ein verfestigter Aufenthaltstitel in Form einer Niederlassungserlaubnis zu, während er nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden AuslG bereits mit der unanfechtbaren Asylanerkennung eine - vergleichbare- unbefristete Aufenthaltserlaubnis erwarb.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist zwar für eine gerichtliche Entscheidung das zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltende neue Recht maßgeblich. Dies besagt aber nicht, dass diesem bezüglich neu eingeführter Fristbestimmungen samt daran anknüpfenden Pflichten eine Rückwirkung über den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens hinaus zuzumessen wäre (so auch Bay. VGH, B. v. 25.04.2005 - 21 ZB 05.30260 -).

Entgegen der Auffassung des Klägers können an die fehlende Prüfungspflicht für sog. Altfälle keine materiell-rechtlichen Folgen für den Asylbewerber zu Lasten des Bundesamts geknüpft werden. Eine Rückwirkung rechtfertigende Übergangsvorschriften sind nicht vorhanden - §§ 87 Abs. 1, 87b AsylVfG enthalten keine entsprechenden Regelungen -. Dieser hätte es aber nach verfahrensrechtlichen Prinzipien bedurft. Neues Verfahrensrecht erstreckt sich grundsätzlich nicht mehr auf abgeschlossene Verfahren oder Verfahrensabschnitte, es sei denn, es besteht eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung (BVerwG, U. v. 26.03.1985 - 9 C 47/84 -, Buchholz 402.25 § 10 AsylVfG Nr. 1; VG Karlsruhe, U. v. 04.02.2005 - 3 K 11689/04 - zit. n. juris). Berücksichtigt man, dass für die bis zum 31.12.2004 bekannt gegebenen Widerrufsentscheidungen eine Prüfungspflicht des Bundesamts nicht existiert hat und dass das Bundesamt nach Erlass seiner Widerrufsentscheidung dieser neuen Verfahrensvorschrift im gerichtlichen Verfahren auch nicht mehr Rechnung tragen kann, so hätte es zwingend einer gesetzlichen Geltungsanordnung bedurft, wenn in diesen Fällen dennoch die mit der Prüfungspflicht verbundene materiell-rechtliche Folge einer Ermessensentscheidung rückwirkend zur Anwendung gelangen soll.

Ein im Wege einer erweiternden Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG begründeter Anspruch des Klägers auf eine Ermessensentscheidung ist auch nicht aus Vertrauensschutzgesichtspunkten herzuleiten (a.A. VG Darmstadt, U. v. 12.01.2005 - 1 E 2836/03.A (3) -). § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG knüpft an die negative Mitteilung an, dass ein Widerruf nicht erfolgen wird. Diese liegt bei den sog. Altfällen jedoch nicht vor. Mithin ist auch seitens des Bundesamts kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, dem im Rahmen einer Ermessensentscheidung Rechnung getragen werden müsste.