VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 15.06.2005 - 2 K 826/05 - asyl.net: M6720
https://www.asyl.net/rsdb/M6720
Leitsatz:

Der Schutz der Familie nach Art. 8 EMRK umfasst auch die familiäre Lebensgemeinschaft mit Großeltern und Tanten/Onkeln; Abschiebungshindernis, wenn Lebensgemeinschaft mit entfernt Verwandten für das Kind von gemischt-ethnischer Abstammung der einzige Kontakt zu Verwandten der einen Ethnie sind.

 

Schlagwörter: Schutz von Ehe und Familie, Abschiebungshindernis, EMRK,Europäische Menschenrechtskonvention, gemischt-ethnische Abstammung, Großeltern, Enkel, Abschiebungsankündigung, Zustellung, Prozessbevollmächtigte, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Antrag, Aufenthaltserlaubnis, Erlaubnisfiktion
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; EMRK Art. 8 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 5 S. 4; VwVfG § 14; AufenthG § 25; AufenthG § 81 Abs. 3 - 4
Auszüge:

Der Schutz der Familie nach Art. 8 EMRK umfasst auch die familiäre Lebensgemeinschaft mit Großeltern und Tanten/Onkeln; Abschiebungshindernis, wenn Lebensgemeinschaft mit entfernt Verwandten für das Kind von gemischt-ethnischer Abstammung der einzige Kontakt zu Verwandten der einen Ethnie sind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen können. Zunächst folgt dieser für die Antragsteller zu 1, zu 2 und zu 4 aus § 60a Abs. 2 AufenthG. Es spricht nämlich bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sachlage einiges dafür, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK einer Abschiebung der Antragsteller zu 1 und zu 2 rechtlich entgegensteht, sie also rechtlich unmöglich im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG ist.

Der Begriff des Familienlebens in Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen. Er umfasst mehr als die Beziehungen zwischen Elternteilen und ihren Kindern. Er umfasst auch gelebte Beziehungen zwischen Großeltern, Kindern und Enkelkindern (Mayer-Ladewig, EMRK, 1. Aufl. 2003, Art. 8 Rn. 18). Die Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK fordert zunächst, dass die Familie ein gemeinsames Leben entsprechend der Bindungen untereinander führen kann. Jedoch garantiert die Konvention dieses Recht nicht schrankenlos. Ein Eingriff in das Familienleben ist nach Art. 8 Abs. 2 EMRK dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer ist.

Die Trennung der Antragsteller zu 1 und 2 von dem Antragsteller zu 4 würde sich nach derzeitigem Sachstand wohl als nicht gerechtfertigter Eingriff in das von den Antragstellern vermutlich gelebte Familienleben darstellen, so dass der Antragsgegner ihn zu unterlassen hat.

Allerdings garantiert die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise, Einbürgerung oder Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Konvention (EGMR, Urt. v. 02.08.2001 - 54273/00 -, InfAuslR 2001, 476 ff. - Boultif). Unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Achtung des Familienlebens kann ein Mitgliedstaat jedoch verpflichtet sein, Einschränkungen in seiner Gestaltungsfreiheit im Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht hinzunehmen und einen Aufenthalt zu gewähren (Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 1. Aufl. 2003, § 22 Rn. 39).

Die vorgelegten schriftlichen und eidesstattlichen Versicherungen genügen dem Gericht, um davon auszugehen, dass es derzeit wenigstens leicht überwiegend wahrscheinlich erscheint, dass hier schützenswerte Verbindungen zwischen und unter den Antragstellern bestehen. Würde der Aufenthalt der Antragsteller zu 1 und 2 nunmehr demnächst beendet, bedeutete dies für den Antragsteller zu 4 möglicherweise den Verlust des persönlichen Kontakts zur albanisch sprechenden Verwandtschaft und damit auch den Verlust der Möglichkeit, seine Identität, die durch das Hervorgehen aus einer gemischt-nationalen Ehe geprägt ist, aufzufinden, auszubilden und zu erleben. Dies würde für den Fall, dass die Angaben der Mutter des Antragstellers zu 4 vollkommen zutreffend sein sollten, einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens bedeuten, weil nicht wieder gut zu machende Schäden drohen könnten. Es obliegt der Abschiebebehörde, den Sachverhalt insoweit aufzuklären und zu ermitteln, ob hier eine so rege Begegnungs- und Beistandsgemeinschaft zwischen den Antragstellern zu 1 und 2 und ihrem Enkel, dem Antragsteller zu 4, tatsächlich besteht und ob dieser tatsächlich in der vorgetragenen Form (Erlernen auch der albanischen Sprache) von dieser Gemeinschaft profitiert. Angezeigt könnte es. sein, sich hierfür des zuständigen Jugendamtes bei den Ermittlungen zu bedienen. Sollte sich dabei herausstellen, dass die Kontakte über ein gelegentliches "Babysitten" nicht hinausgehen, stünde Art. 8 Abs. 1 EMRK einer Abschiebung zweifellos nicht im Wege. Hingegen dürfte eine enge, gelebte Beistandsgemeinschaft wohl dazu führen, dass eine Abschiebung sich als unverhältnismäßiger Eingriff in das Konventionsrecht darstellen würde.

Hinsichtlich der Antragstellerin zu 3 gilt im Übrigen, dass diese auch ohne den Ausspruch des Gerichts nicht vor Ablauf des 22.06.2005 hätte abgeschoben werden dürfen. Die nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG notwendige Abschiebungsankündigung ist ihr nämlich unter Verstoß gegen § 14 LVwVfG direkt zugestellt worden. Richtig und rechtlich zwingend erforderlich wäre es wohl gewesen, auch ihren Verfahrensbevollmächtigten (vgl. S. 65 f der Behördenakten) einen Monat vor der möglichen Abschiebung zu informieren (vgl. VG Göttingen, Beschl. v. 15.01.1999 - 4 B 4009/99 -, InfAuslR 1999, 200).

Da der Antragsgegner die Abschiebung auch ernsthaft beabsichtigt, besteht auch der Anordnungsgrund der Eilbedürftigkeit.

Die Anträge haben aber keinen Erfolg, soweit mit ihnen eine Duldung bis zum Abschluss der Verfahren auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 AufenthG begehrt werden. Die Regelungen in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zur Frage, wann die Beantragung eines Aufenthaltstitels zu einem fiktiv erlaubten oder geduldeten Aufenthalt führen, sind nämlich abschließend. Die Tatbestände der Normen sind auch offensichtlich nicht erfüllt. Dies behaupten die Antragsteller auch nicht. Ein Recht auf vorläufige Duldung könnte nur dann angenommen werden, wenn die Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels greifbar rechtswidrig wäre, ein Anspruch des Ausländers bestünde und das Verwaltungsverfahren sich im Stadium eines Rechtsbehelfsverfahrens befinden würde.