OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.11.2004 - 1 LB 6/04 - asyl.net: M6667
https://www.asyl.net/rsdb/M6667
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung der Uden in Aserbaidschan; § 53 Abs. 6 AuslG für alleinerziehende Mutter wegen mangelnder Sicherung des Existenzminimums.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Uden, Christen (armenisch-apostolische), Mittelbare Verfolgung, Christen (russisch-orthodoxe), Christen (Georgisch-orthodoxe), Gruppenverfolgung, Alleinstehende Frauen, Alleinerziehende Frauen, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die Klägerinnen wären im Falle einer Abschiebung nach Aserbaidschan in keinem der in § 51 Abs. 1 AuslG genannten Schutzgüter aus Gründen, die dem aserbaidschanischen Staat zuzurechnen sind, bedroht.

Die armenische Volkszugehörige betreffende Beurteilung der Gesamtsituation in Aserbaidschan lässt sich auf die Volksgruppe der Uden nicht schematisch übertragen. Schon die udische Sprache unterscheidet sich vom Armenischen (vgl. DOI, Auskunft vom 09.08.2004, Anlage). Nach den im Berufungsverfahren eingeholten Auskünften, insbesondere nach der sehr sorgfältigen, durch viele Details belegten und differenzierten Auskunft des Transkaukasus-Instituts vom 15.06.2004 können für die udische Volksgruppe "gruppenbezogene", eine besondere Gefährdung begründende Merkmale (Sprache, Sitten, Gebräuche) nur in Verbindung mit der Religionszugehörigkeit erwogen werden. Die ­vom Auswärtigen Amt angesprochenen (Auskunft vom 09.06.2004, S. 2) ­ "Unterdrückungs- und Vertreibungsmaßnahmen durch nachgeordnete Behörden und Privatpersonen" in den Jahren 1988 ­ 1993 wirkten sich regional unterschiedlich aus; in Vartasen (Oguz) anders als in Nic (vgl. DOI, a.a.O.). Die Religionszugehörigkeit udischer Volkszugehöriger ist -­ soweit überhaupt feststellbar -­ der armenisch-apostolischen Kirche, der georgisch-orthodoxen und der russisch-orthodoxen Kirche zuzuordnen, darüber hinaus existieren "synkretistische" Glaubensvorstellungen. Viele Uden gelten als areligiös. Soweit in Aserbaidschan christliche Uden als "Freunde und Unterstützer der Armenier" angesehen, be- und misshandelt worden sind, bezog sich dies -­ soweit ersichtlich -­ auf die armenisch-apostolisch orientierten Uden. Die georgisch bzw. russisch orthodox orientierten Gläubigen erlitten keine Pressionen.

Für den Zeitraum bis (etwa) 1993 kann eine -­ mit dem Schicksal der armenischen Volkszugehörigen vergleichbare -­ mittelbare Gruppenverfolgung von Uden in Aserbaidschan nur für diejenigen Personen in Betracht gezogen werden, die sich ­ in religiöser Hinsicht ­erkennbar zur armenisch-apostolischen Kirche orientiert haben. Ob für eine -­ so umgrenzte - Gruppe eine mittelbare Gruppenverfolgung nach der Zahl und Dichte der "Verfolgungsschläge" angenommen werden kann, erscheint zweifelhaft; vorliegend bedarf dies keiner Klärung, weil die Klägerinnen einer solchen (gruppenbezogenen) Gefährdung nicht ausgesetzt sind.

Unabhängig von der Frage, ob bis (etwa) 1993 in Aserbaidschan eine mittelbare Gruppenverfolgung von armenisch-apostolischen Uden stattgefunden hat, besteht für die Klägerinnen (jetzt) keine beachtliche Wahrscheinlichkeit mehr, derartigen Verfolgungsmaßnahmen in Aserbaidschan ausgesetzt zu sein. Angesichts dieser übereinstimmenden und (besonders vom TKI mit zahlreichen Details belegten) differenzierten Auskünfte ist ein Ansatzpunkt dafür, dass udische Volkszugehörige heute noch -­ beachtlich wahrscheinlich -­ einer mittelbaren Gruppenverfolgung in Aserbaidschan ausgesetzt sind, nicht gegeben. Etwas anderes mag noch für ausgeprägt armenisch-apostolisch orientierte Christen gelten.

Die Klägerinnen können demgegenüber Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 AufenthG) beanspruchen.

Was die individuelle Rückkehrsituation anbetrifft, muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerinnen allein -­ also ohne ihren Ehemann bzw. Vater - nach Aserbaidschan zurückkehren müssten.

Im Fall der Klägerinnen ist -­ weiter - zu berücksichtigen, dass sie nach ihren glaubwürdigen Angaben in Aserbaidschan keinerlei Verwandte oder Bekannte mehr haben.

Als Neuankömmlinge in Aserbaidschan -­ nach 13 Jahren Aufenthalt (zunächst) in Russland und (...)) in Deutschland - wären die Klägerinnen mit sehr harten Existenzbedingungen konfrontiert. Es muss damit gerechnet werden, dass sie keine hinreichenden Existenzbedingungen vorfinden. Noch immer leben große Teile der Bevölkerung in Aserbaidschan unter dem Existenzminimum; es wird von einem Durchschnittsgehalt von 50,-- USD und einer geschätzten Arbeitslosigkeit von 25% und einer Armutsquote von 49 % sowie über den Zusammenbruch des sozialen Netzes berichtet (AA, Lagebericht, a.a.O., S. 19). Die Klägerin zu 1) müsste um die ohnehin kaum angebotene Beschäftigungsmöglichkeiten mit einheimischen Bewerbern konkurrieren. Aus der (im Termin von der Beklagten vorgelegten) Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.06.2004 ist zu entnehmen, dass insbesondere im udischen Siedlungsraum im Raum Nic eine besonders hohe Erwerbslosigkeit mit einem entsprechend geringen Lebensstandard festzustellen ist. Viele verdingen sich (nur) zeitweise als Tagelöhner für ständig wechselnde Arbeitgeber; im übrigen herrscht Subsistenzwirtschaft.

Die Klägerin wäre wegen der notwendigen Aufsicht und Erziehung über ihre drei Kinder nicht in der Lage, sich in den von Knappheit und Armut geprägten Verhältnissen aktiv um das tägliche Auskommen oder (gar) darum zu kümmern, durch geregelte Arbeit eine auskömmliche (bescheidene) Existenzgrundlage zu finden. Ohne eigene Bleibe wird sie auch außerstande sein, sich durch Subsistenz (aus einem Garten oder durch Kleintierhaltung) zu ernähren.

Angesichts dieser Gesamtsituation und des Angewiesenseins der Familienmitglieder aufeinander ist im Falle der Klägerinnen im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib und (Über-) Leben zu besorgen. Insoweit unterscheidet sich der Einzelfall der Klägerinnen erheblich von der Situation, in der andere (udische oder armenische) Volkszugehörige stehen, die in Aserbaidschan leben und sich ­innerhalb eines Verwandten- oder Nachbarschaftskreises - in einem gewissen Mindestumfang selbst helfen können, um unter "knappen" Bedingungen zu überleben.