VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 14.01.2005 - 6 K 1763/03 - asyl.net: M6633
https://www.asyl.net/rsdb/M6633
Leitsatz:

1. Ein assoziationsrechtlicher Aufenthaltsanspruch - hier abgeleitet aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 - erlischt nicht nach nationalem Recht, sondern ausschließlich nach assoziationsrechtlichen bzw. nach gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (a. A. VGH Baden-Württemberg, B. v. 22.01.2004 - 11 S 192/04 -).

2. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, verlieren ihre Rechtsstellung nur dann, wenn sie das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (im Anschluss an EuGH, U. v. 16.03.2000 - Rs. C-329/97 -, Ergat, InfAuslR 2000, 217).

 

Schlagwörter: Gemeinschaftsrecht, Assoziationsberechtigte, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Erlöschen, Ausreise, Familienangehörige, Rechtsmittel, Suspensiveffekt, Ausweisung, Ermessen, Ermessensausweisung, Wiederholungsgefahr, Privatleben
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; AufenthG § 51 Abs. 1; RL 64/221/EWG Art. 9; EMRK Art. 8
Auszüge:

1. Ein assoziationsrechtlicher Aufenthaltsanspruch - hier abgeleitet aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 - erlischt nicht nach nationalem Recht, sondern ausschließlich nach assoziationsrechtlichen bzw. nach gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (a. A. VGH Baden-Württemberg, B. v. 22.01.2004 - 11 S 192/04 -).

2. Türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, verlieren ihre Rechtsstellung nur dann, wenn sie das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (im Anschluss an EuGH, U. v. 16.03.2000 - Rs. C-329/97 -, Ergat, InfAuslR 2000, 217).

(Amtliche Leitsätze)

 

1. Der Kläger kann sich auf eine Rechtsstellung nach Art. 7 S. 1 ARB 1/80 berufen. Art. 7 S. 1. ARB 1/80 ist dahin auszulegen, dass er die Situation einer volljährigen Person, die Kind eines türkischen Arbeitnehmers ist, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaats angehört oder angehört hat, erfasst, obwohl diese im Aufnahmemitgliedsstaat geboren ist und stets dort gewohnt hat (EuGH, U. v. 11.11.2004 - Rs. C 467/02 -, XXX; VG Karlsruhe, U. v. 14.05.2002 - 11 K 3494/00 -). Vor diesem Hintergrund ist es unschädlich, dass der Kläger entgegen dem Wortlaut von Art. 7 S. 1 ARB 1/80 nicht im Wege des Familiennachzugs eingereist ist, sondern bereits im Bundesgebiet geboren wurde und hier aufgewachsen ist.

Die dem Kläger assoziationsrechtlich vermittelte Rechtsposition ist - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Az: 11 S 192/04) - auch nicht dadurch erloschen, dass er im Mai 2002 aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde in die Türkei ausgereist ist (vgl. dazu: § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG / § 51 Abs. 1 AufenthG). Denn die Frage, des Erlöschens des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsanspruch beurteilt sich - worauf der Kläger zu Recht hinweist - nicht nach nationalem Recht und damit nicht nach § 44 AuslG / § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG, sondern ausschließlich nach Assoziationsrecht bzw. nach gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (vgl. U. v. 16.03.2000 - Rs. C-329/97 -, XXX, InfAuslR 2000, 217) entsteht bei Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 7 S. 1 ARB 1/80 ein europarechtliches Aufenthaltsrecht, das von der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis unabhängig ist. Die Aufenthaltserlaubnis hat in diesem Fall nur deklaratorische Bedeutung und soll im Wesentlichen dem Ziel dienen, den nationalen Behörden die Kenntnis der Bevölkerungsbewegungen in ihrem Hoheitsgebiet zu ermöglichen. Denn das in Art. 7 S. 1 ARB 1/80 vorgesehene, durch keine Voraussetzungen - nicht einmal durch einen Vorrang der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - eingeschränkte Recht des Betroffenen, eine frei von ihm gewählte Beschäftigung aufzunehmen, würde ausgehöhlt, wenn die zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit hätten, die Ausübung der dem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehenen, genauer bestimmten Rechte an Bedingungen zu knüpfen oder in irgendeiner Weise einzuschränken. Vor diesem Hintergrund sind die Mitgliedsstaaten nicht mehr befugt, Bestimmungen über den Aufenthalt zu erlassen, die geeignet sind, die Ausübung der Rechte zu beeinträchtigen, die den Personen, die die in dem Beschluss Nr. 1/80 aufgestellten Voraussetzungen erfüllen und sich somit bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedsstaat integriert haben, durch den Beschluss ausdrücklich verliehen werden.

Ein Familienangehöriger im Sinne des Art. 7 S. 1 ARB 1/80 - wie der Kläger - verliert die von ihm erworbene Rechtsstellung deshalb nur dann, wenn er das Gebiet des Mitgliedsstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt (EuGH, U. v. 16.03.2000, a. a. O., U. v. 17.04.1997 - Rs. C-351/95 -XXX, InfAuslR 1997, 21).

2. Auch vor dem Hintergrund der dem Kläger zustehenden Rechtsposition aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 genügt die streitgegenständliche Ausweisung den Anforderungen, die das Gemeinschaftsrecht an die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen stellt.

a) Dies gilt zunächst hinsichtlich der "formellen" Frage, ob das einstufige Ausweisungsverfahren in Baden-Württemberg vor den Regierungspräsidium den Verfahrensgarantien des Art. 9 der Richtlinie 64/221 /EWG entspricht. Nach der eingehend begründeten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (U. v. 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -, VBlBW 2003, 289) entspricht der gegen eine Ausweisungsverfügung gegebene Rechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland den Anforderungen von Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG fordert die Einholung der Stellungnahme einer zuständigen Stelle vor Erlass der Ausweisungsverfügung nur dann, wenn es keine Rechtsmittel gegen diese Verfügung gibt oder die Rechtsmittel im Sinne dieser Vorschrift auf die "Gesetzesmäßigkeit" beschränkt sind oder "keine aufschiebende Wirkung" haben. Dies ist hier nicht der Fall. Denn gegen die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe ist das Rechtsmittel der Anfechtungsklage gegeben. Die Überprüfung der Ausweisungsverfügung ist nicht lediglich auf die "Gesetzesmäßigkeit" im Sinne der Richtlinie in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs beschränkt, die nur die formelle Rechtmäßigkeit und die Nichtigkeit nach deutschem Rechtsverständnis umfasst. Die innerstaatlichen Rechtsmittel - hier Klage - sind auch keine solchen, die "keine aufschiebende Wirkung" im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG haben. Zwar entfaltet die streitgegenständliche Anfechtungsklage selbst keine aufschiebende Wirkung, weil die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO behördlicherseits angeordnet wurde. Es bestand jedoch eine - dem Betroffenen zumutbare und von ihm auch wahrgenommene - Möglichkeit, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und damit die Aussetzung des Vollzugs der Maßnahme zu erlangen, wobei die Ausweisung einer den Anforderungen der Prüfungsdichte des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG genügenden Überprüfung unterzogen wurde.

b) Darüber hinaus hält die Ausweisung auch einer materiell-rechtlichen Überprüfung stand.

Aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 29.04.2004 (Rs. C-482/01 und C-493/01 - XXX und XXX -, DVBl 2004, 876) ist auch bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 berufen können, von veränderten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen. Diese Entscheidung bezieht sich zwar auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger. Sie ist jedoch hinsichtlich ihrer materiell-rechtlichen Grundsätze auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, die ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen (BVerwG, U. v. 03.08.2004 1 C 29.02 -). Diese dürfen demnach nur noch aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung nach §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 darf eine Ausweisung nur dann erfolgen, wenn der Assoziationsberechtigte durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet. Mithin ist die anzustellende Gefahrenprognose auf spezialpräventive Gesichtspunkte zu beschränken, und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt besondere Bedeutung zu. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (BVerwG, U. v. 03.08.2004, a. a. O.).