VG Mainz

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Zitieren als:
VG Mainz, Urteil vom 27.04.2005 - 7 K 755/04.MZ - asyl.net: M6591
https://www.asyl.net/rsdb/M6591
Leitsatz:

§ 60 Abs. 2 AufenthG wegen der Gefahr der Folter eines Funktionärs einer als terroristisch eingestuften Organisation in Indien; § 28 Abs. 2 AsylVfG auf Altfälle anwendbar.

 

Schlagwörter: Indien, Punjabi, Sikhs, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Folgeantrag, Babbar Khalsa International, ISYF, Zuwanderungsgesetz, Gesetzesänderung, Entscheidungszeitpunkt, Rückwirkungsverbot, Ausnahmefall, Terrorismus, Flüchtlingsanerkennung, Ausschluss, Grundsätze der Vereinten Nationen, Schwerwiegende Gründe, Folter, VN-Antifolterkonvention, Situation bei Rückkehr, Polizei, Polizeigewahrsam, prevention of terrorism act, POTA, Mitglieder, Demonstrationen, Fahndung
Normen: AsylVfG § 28 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 8 S. 2 Alt. 3; AufenthG § 60 Abs. 2; VN-Antifolterkonvention Art. 1
Auszüge:

§ 60 Abs. 2 AufenthG wegen der Gefahr der Folter eines Funktionärs einer als terroristisch eingestuften Organisation in Indien; § 28 Abs. 2 AsylVfG auf Altfälle anwendbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 28 Abs. 2 AsylVfG in der Fassung von Art. 3 Nr. 18 Buchst. b des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) kann im Folgeantragsverfahren eine Feststellung, dass dem Ausländer die in § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) bezeichneten Gefahren drohen, in der Regel nicht mehr getroffen werden, wenn der Ausländer seinen Asylfolgeantrag auf Umstände im Sinne von Abs. 1 stützt, die nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags entstanden sind. Diese Regelung hat zur Folge, dass - im Gegensatz zu der zu § 51 Abs. 1 AuslG geltenden Rechtslage - nicht nur - wie bisher - die Zuerkennung von Asyl im Sinne von Art 16a Abs. 1 GG, sondern auch die Zuerkennung des so genannten "kleinen Asyls" regelmäßig ausgeschlossen ist, wenn nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylverfahrens ein Folgeverfahren auf selbst geschaffene Nachfluchtgründe gestützt wird. Damit soll der bislang bestehende Anreiz genommen werden, nach unverfolgter Ausreise aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen (vgl. BT-DrS 15/420, S. 110).

Hiervon ausgehend scheitert das Begehren des Klägers auf Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG bereits an dem gesetzlichen Ausschlusstatbestand des § 28 Abs. 2 AsylVfG in der Fassung von Art. 3 Nr. 18 b des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthaltes und zur Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004, der vorliegend im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylVfG) der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist.

Entgegen der Auffassung des Klägers begegnet die in § 28 Abs. 2 AsylVfG getroffene Regelung auch angesichts des Umstandes, dass sie mangels einer Übergangsregelung im Zuwanderungsgesetz wegen des in § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz AsylVfG enthaltenen Beurteilungszeitpunktes der letzten mündlichen Verhandlung auch auf Asylverfahren Anwendung findet, die vor dem 01. Januar 2005 - dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zuwanderungsgesetzes - beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bzw. bei Gericht anhängig waren, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken; insbesondere verstößt sie nicht gegen das auf dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG beruhende Rückwirkungsverbot. Denn grundsätzlich ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss vom 25. Mai 1993 - 1 BvR 1509, 1648/91 -, BVerfGE 88, 384, 403) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 29. August 1995 - 9 C 391.94 -, BVerwGE 99, 133, 137) eine Rückwirkung von Rechtsfolgen grundsätzlich nur in den Fällen der sog. "echten Rückwirkung" verboten, d. h. in den Fällen, in denen ein Gesetz vor seiner Verkündung bereits abgeschlossene Rechtsbeziehungen nachträglich veränderten Bedingungen unterwirft. Hingegen ist in den Fällen, in denen das Gesetz für noch andauernde Tatbestände, insbesondere Rechtsverhältnisse, mit Wirkung (nur) für die Zukunft erstmalig oder veränderter Rechtsfolgen vorsieht (sogenannte "unechte Rückwirkung"), eine Rückwirkung von Rechtsfolgen auch unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes grundsätzlich zulässig (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. März 1971 - 2 BvL 17/69 -, BVerfGE 30, 392, 402, und vom 15. Oktober 1996 - 1 BvR 44, 48/92 -, BVerfGE 95, 64, 86: ständige Rechtsprechung), wobei sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der Zulässigkeit ergeben, etwa dann, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszweckes nicht geeignet oder erforderlich ist, oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzesgebers überwiegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Oktober 1995, a.a.O.).

Hiervon ausgehend ist die in § 28 Abs. 2 AsylVfG getroffene Regelung von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Zunächst hat sie nicht den Fall der "echten Rückwirkung" zum Gegenstand, denn in den Fällen, in denen sie Anwendung auf vor dem 01. Januar 2005 anhängige Asylverfahren findet, ist das mit der Stellung des Asylantrags anhängig gemachte Rechtsverhältnis noch nicht (bestandskräftig) abgeschlossen, sondern dauert noch an. Sie ist aber auch nach den vom Bundesverfassungsgericht zur "unechten Rückwirkung" entwickelten Kriterien rechtlich zulässig, denn sie ist insbesondere geeignet und erforderlich, den mit ihr verfolgten Gesetzeszweck - nämlich den Anreiz zu nehmen, nach unverfolgter Ausreise

und abgeschlossenen Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen (vgl. Amtliche Begründung, BT-DrS 15/420, S. 110) - zu erreichen, und es überwiegen auch nicht die Bestandsinteressen des Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers. Dies ergibt sich daraus, dass der von der Regelungswirkung des § 28 Abs. 2 AsylVfG Betroffene nicht schutzlos bleibt. Wie bereits der Gesetzgeber in der amtlichen Begründung zu § 28 Abs. 2 AsylVfG in der durch das Zuwanderungsgesetz getroffenen Fassung ausgeführt hat, entsteht durch den Wegfall des "großen" und des "kleinen" Asyls für die Betroffenen keine Schutzlücke, da Art. 16 a GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG nicht die einzigen Rechtsgrundlagen für einen (Schutz-)Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet oder jedenfalls für ihren Schutz vor Abschiebung darstellen; so kann z. B. im Falle konkreter Gefahren der erforderliche Schutz im Rahmen der Prüfung sonstiger Abschiebeverbote durch das Bundesamt gewährleistet werden (vgl. BT-DrS 15/420, S. 110). Hinzu kommt auch, dass bereits nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 AsylVfG in den Fällen der Geltendmachung subjektiver Nachfluchtgründe im Asylfolgeverfahren die Ausschlusswirkung nicht ausnahmslos, sondern nur "... in der Regel ..." gilt.

Wie dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 AsylVfG zu entnehmen ist, kann in einem Asylfolgeverfahren die Feststellung der Voraussetzung eines Abschiebeverbotes im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG "... in der Regel ..." nicht begehrt werden, wenn der Ausländer sein Asylfolgeverfahren auf Gründe stützt, die er nach Verlassen seines Herkunftslandes aus eigenem Schluss geschaffen hat (sogenannte subjektive Nachfluchtgründe). § 28 Abs. 2 AsylVfG geht somit von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis aus, d. h. die Vorschrift ist einerseits so anzuwenden, dass sie im Hinblick auf das Vorliegen eines Ausnahmefalls nicht leer läuft; andererseits darf aber auch der hinter der Vorschrift stehende Gesetzeszweck (vgl. BT-DrS 15/420, S. 110) nicht unterlaufen werden. Dies wird im Ergebnis dazu führen, dass nur in besonders gelagerten, sich vom Regelfall der Geltendmachung subjektiver Nachfluchtgründe in deutlicher Weise unterscheidenden Fällen die Ausschlusswirkung des § 28 AsylVfG nicht zum Tragen kommen wird. Wann dies der Fall ist, lässt sich unmittelbar aus der amtlichen Begründung zu § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht entnehmen, denn dort wird auf das Regel-Ausnahme-Verhältnis mit keinem Wort eingegangen. Wenn man sich jedoch Sinn und Zweck der mit § 28 Abs. 2 AsylVfG verfolgten Regelung - nämlich den Anreiz zu nehmen, nach unverfolgter Ausreise und abgeschlossenen Asylverfahren aufgrund neu geschaffener Nachfluchtgründe ein Asylverfahren zu betreiben, um damit zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen (vgl. amtliche Begründung, a.a.O.) - vor Augen hält, so kann eine Ausnahme vom Regelfall fehlender Beachtlichkeit subjektiver Nachfluchtgründe im Folgeantragsverfahren z. B. in den Fällen in Betracht kommen, in denen subjektive Nachfluchtgründe in untergeordneter Funktion zeitlich nachgeordnet zu anderen, der Aufschlusswirkung des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht unterliegenden Gründen treten und erst das Zusammenspiel aller Umstände eine beachtliche Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG begründet. Zu denken wäre aber auch an Fälle, in denen ausnahmsweise die Ausschlusswirkung des § 28 Abs. 2 AsylVfG etwa mangels anderer Abschiebeverbote nach § 60 AufenthG das Entstehen einer Schutzlücke für den Ausländer befürchten ließe (so anklingend auch bei: Niedersächsisches Ministerium des Innern und für Sport, Informations- und Schulungsmaterial zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), Stand: November 2004, S. 106); gleiches wäre in den Fällen denkbar, in denen die aufenthaltsrechtliche Behandlung von Ausländern mit Abschiebeverboten nach § 60 Abs. 2 und 3 bzw. 5 bis 7 AufenthG - in diesen Fällen soll eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG - etwa in Folge einer rigiden Verwaltungspraxis zu einer Schutzlücke führen würde. Kein Ausnahmefall von der Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG liegt hingegen nach Auffassung des Gerichts in einer etwaigen unterschiedlichen sozialen Behandlung von Ausländern mit einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. Abschiebeverboten nach § 60 Abs. 2 und 3 bzw. 5 bis 7 AufenthG, denn der Schutzzweck des AsylVfG beruht auf dem Zufluchtsgedanken und zielt auf den Schutz von Ausländern vor einer asylrelevanten Gefährdung in ihrem jeweiligen Herkunftsstaat und nicht auf die Schaffung geordneter Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht.

Letztlich kann die Frage, ob dem Begehren des Klägers in Bezug auf die Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG bereits die Ausschlusswirkung des § 28 Abs. 2 AsylVfG entgegen steht, oder ob nicht vielleicht in seiner Person eine - allerdings eher ziemlich unwahrscheinliche - Ausnahme von der Regel in Betracht kommt, jedoch offen bleiben, denn jedenfalls stünde der Zuerkennung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG der Vorbehalt des § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 3 AufenthG entgegen. Der Kläger ist nämlich Mitglied und als stellvertretender Generalsekretär der Gruppe West hochrangiger Funktionär der Sikh-Organisation "Babbar Khalsa International" in der Bundesrepublik Deutschland und gehört damit einer Organisation an, die sowohl seitens der Europäischen Union (vgl. Art. 1 Ziffer 2.6 des Beschlusses 2005/221/GASP des Rates vom 15. März 2005 zur Durchführung von Art. 2 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung des Beschlusses 2004/306/EG, ABlEG NR. L 69/64 vom 16. März 2005) als auch seitens der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika (Zeitung "The Hindu" vom 29. Juni 2002: Babbar Khalsa on U.S. terrorist list) als terroristische Vereinigung eingestuft ist und in der Bundesrepublik Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird (vgl. Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 102 bis 104; Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2003, S. 209; Verfassungsschutzbericht Hessen 2003, S. 56, 57), und es ist aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt, dass er sich hat Handlungen zuschulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung jedoch einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebeverbots im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Für ihn besteht nämlich im Falle einer Rückkehr nach Indien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr, der Folter unterwerfen zu werden. Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter unterworfen zu werden.

Unter Folter ist nach der Definition des Art. 1 UN-Folterkonvention, die nach der Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich verbindlich ist, eine Behandlung zu verstehen, der einer Person vorsätzlich schwere Schmerzen oder Leiden körperlicher oder gar geistig-seelischer Art zufügt, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie oder einen Dritten zu bestrafen, einzuschüchtern oder zu nötigen oder mit diskriminierender Absicht zu verfolgen; die Schmerzen oder Leiden müssen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen amtliche handelnden Person veranlasst sein oder mit deren ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis verursacht sein. Diesem Folterbegriff ist wie Art. 3 EMRK die staatliche Verantwortlichkeit eigen, die im Falle der Abschiebung (auch) den Aufenthaltsstaat trifft (vgl. insoweit VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07. September 2004 - 14a K 79/03.A -, S. 14).

Erforderlich ist eine konkrete Gefahr. Allein die theoretische Möglichkeit, Einbußen an den durch § 60 Abs. 2 AuslG geschützten Rechtsgüter zu erleiden, genügt nicht. Vielmehr ist der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegte, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für diesen Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert. Der für die asylrechtliche Vorverfolgung herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt nicht für Abschiebeverbote im Sinne von § 60 Abs. 2 und 3 sowie 5 - 7 AufenthG (vgl. zur insoweit inhaltsgleichen Vorschrift des § 53 AuslG BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Juli 1993 - A 16 S 145/93 -, VBlBW 1993, 480; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20. Januar 2000 - 6 A 12169/99.OVG -).

Der Kläger muss als Funktionär der "Babbar Khalsa International", die die Schaffung eines von Indien unabhängigen Punjab (= Khalistan) erreichen will (vgl. Auskunft des Südasien-Instituts vom 26. April 2004 an das VG Gelsenkirchen; Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 104), bei seiner Rückkehr nach Indien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit seiner Verfolgung am Flughafen und mit Folter im Polizeigewahrsam rechnen. Die "Babbar Khalsa International" gehört zu den Organisationen, die nach dem indischen "prevention of terrorism act vom Februar 2002" - POTA - als terroristische Organisation verboten sind. Nach Art. 20 POTA - diese Vorschrift findet ungeachtet des Umstandes, dass der POTA mittlerweile außer Kraft gesetzt worden ist, rückwirkend jedoch weiterhin Anwendung findet (vgl. insoweit die Ergänzung des Südasien-Instituts zu der Auskunft vom 26. April 2004 an das VG Gelsenkirchen, Bl. 82 der Gerichtsakten) - kann die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation mit Freiheitsstrafe bis 10 Jahre, mit Geldstrafe oder mit Freiheits- und Geldstrafe bestraft werden (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. August 2003 an das VG Sigmaringen). Dem Auswärtige Amt ist zwar kein Fall bekannt, in dem die bloße Mitgliedschaft in der ISYF oder "Babbar Khalsa International" zu einer Strafverfolgung geführt hat. Es ist aber zu beachten, dass Personen, die leitende Stellungen innerhalb dieser Organisationen inne haben, aufgrund politischer Aktivitäten im Ausland verfolgt werden, auf einer polizeilichen Fahndungsliste stehen und den Grenzbehörden bekannt sein werden, denn Auslandsaktivitäten bestimmter Gruppen (Sikhs, Kashmiris) werden von indischer Seite beobachtet und registriert (vgl. Lagebericht des Auswärtige Amtes vom 07. September 2004). Eine Person, die auf einer indischen Fahndungsliste steht, wird bei ihrer Einreise über einen internationalen Flughafen grundsätzlich festgenommen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. August 2003 an das VG Sigmaringen). Als "exponierte Anhänger" werden von den indischen Behörden führende Mitglieder der extremistischen Sikh-Organisationen wie ISYF oder "Babbar Khalsa International" eingestuft, die sich durch ihre Aktivitäten, insbesondere weil sie in der Öffentlichkeit erfolgen - so hat auch der Kläger u. a. an einer Demonstration vor dem indischen Generalkonsulat in Frankfurt teilgenommen (Blatt 85 der Gerichtsakten) -, als scheinbar oder tatsächlich besonders aktive Anhänger ihrer Organisation ausweisen (vgl. Auskunft des Auswärtige Amtes vom 11. August 2003 an das VG Sigmaringen zur ISYF).

Der Kläger gehört zu diesem besonders gefährdeten Personenkreis. Er gehört seit Ende März 2005 zum Vorstand der Gruppe West der "Babbar Khalsa International" in Deutschland, die ausweislich der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung das Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland umfasst. Denn nach der Auskunft des Südasieninstituts ist das Verfolgungsinteresse der indischen Behörden gegenüber Mitgliedern und Aktivisten von "Babbar Khalsa International" als außerordentlich hoch einzustufen, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Indien sein Strafverfolgungsinteresse gegen "Babbar Khalsa International" und ähnliche Organisationen nicht nur in Indien, sondern sogar auf internationaler Ebene durchzusetzen versucht, etwa mit Auslieferungsersuchen (vgl. Auskunft vom 26. April 2004 an das VG Gelsenkirchen).

Der Kläger muss bei seiner Verhaftung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit der Anwendung von Folter rechnen. Nach dem Lagebericht des Auswärtige Amtes vom 07. September 2004 hat Indien das internationale Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe lediglich unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Obwohl Folter durch Gesetz verboten ist, wird sie von der Polizei bei Vernehmungen eingesetzt; in einzelnen Fällen wird Folter auch dazu verwendet, um Geld zu erpressen oder sie wird von der Polizei als "Strafe" eingesetzt (vgl. hierzu Auskunft des Auswärtige Amtes vom 11. August 2003 an das VG Sigmaringen; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07. September 2004). Nach Auskunft von amnesty international (vgl. Länderinformation Indien, vom 01. Februar 2003) sind Folter und Misshandlungen durch die Polizei und die Sicherheitskräfte nach wie vor in allen Unionsstaaten Indiens an der Tagesordnung. Die meisten Fälle von Folter werden aus den Krisenregionen gemeldet, zu denen nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (a.a.O.) auch der Punjab gehört, wohin der Kläger nach einer Festnahme überstellt werden würde. Bedenklich ist es insbesondere auch, dass ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes (a.a.O.) aufgrund POTA und anderer Gesetze auch Geständnisse verwertet werden können, die mit unzulässigen Mitteln gewonnen werden und teilweise für in offizieller Funktion verübte Menschenrechtsverletzungen Schutz vor Strafverfolgung gewährt wird. Diese Erkenntnislage spricht nach Auffassung des Gerichts dafür, dass gerade bei der Verfolgung von Straftaten mit politischem Hintergrund die Gefahr der Anwendung von Folter höher einzuschätzen ist, als dies sonst der Fall sein mag (vgl. so auch VG Sigmaringen, Urteil vom 15. Oktober 2003, a.a.O.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07. September 2004 a.a.O., Seite 26).

Schließlich steht zur Überzeugung des Gerichts auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 2003 - 2 BvR 685/03 - (NVwZ 2003, 1097 f.) der vorgenannten Einschätzung der Erheblichkeit der Gefahr für den Kläger, im Falle einer Rückkehr nach Indien der Gefahr der Folter unterworfen zu werden, nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in dem vorgenannten Beschluss die Einschätzung des Oberlandesgerichts München, dass dem dortigen Beschwerdeführer, dem in Indien Vermögensdelikte mit einem insgesamt hohen Unrechtsgehalt vorgeworfen wurden, keine konkrete Gefahr von Folter drohe, als verfassungsrechtlich jedenfalls nachvollziehbar und nicht und nicht willkürlich bezeichnet und nicht zuletzt darauf abgestellt, dass ansonsten das deutsch-indische Auslieferungsabkommen, welches dem dem Bundesverfassungsgericht vorgelegenen Fall zugrunde lag, ansonsten nicht abgeschlossen wäre. Diese Auffassung mag zwar in den Fällen gelten, in denen jemand mit einem strafrechtlich-kriminellen Hintergrund nach Indien verbracht wird, sei es im Wege der Abschiebung nach §§ 58 ff. AufenthG oder nach den Regelungen des deutsch-indischen Auslieferungsabkommens vom 27. Juni 2001. Hiervon unterscheidet sich jedoch der Fall des Klägers, dem nach dem - auf ihn anwendbaren - POTA Straftaten mit politischem Hintergrund vorgeworfen werden würden, und angesichts der dargestellten Auskunftslage und des hohen Strafverfolgungsinteresses des indischen Staates in diesen Fällen spricht zur gerichtlichen Überzeugung mehr dafür, dass die Gefahr der Anwendung von Folter Abschiebungsschutz begründend in Fällen wie dem des Klägers höher einzuschätzen ist als dies sonst - insbesondere etwa in Fällen der Auslieferung nach dem deutsch-indischen Auslieferungsabkommen - der Fall sein mag (ebenso VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07. September 2004, a.a.O., S. 28).