VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 03.03.2005 - 16 K 586/01.A - asyl.net: M6564
https://www.asyl.net/rsdb/M6564
Leitsatz:
Schlagwörter: Côte d'Ivoire, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung, Djoula, Mande, Verfolgungsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, Nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, Gebietsgewalt, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Extreme Gefahrenlage, Rebellen, Soziale Gruppe, Genfer Flüchtlingskonvention, Flüchtlingsfrauen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Bescheid des Bundesamtes vom 09.01.2001 ist rechtswidrig, soweit die Beklagte das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 1 AufenthG (ehemals § 51 Abs. 1 AuslG) verneint hat. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung dieser Voraussetzungen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO); danach konnte auch der den Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG (ehemals 53 AuslG) versagende Teil der angefochtenen Entscheidung der Beklagten keinen Bestand haben.

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe kann gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auch vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (Satz 3). Die Verfolgung kann ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter lit. a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (Satz 4). Die Anforderungen an die notwendige Verfolgungsprognose sind insoweit deckungsgleich mit Art. 16 a GG. Hiernach ist darauf abzustellen, ob jemand "in absehbarer Zeit" mit gegen ihn gerichteten Maßnahmen ernsthaft rechnen muss (Vgl. BVerwG, Urteile vom 31.03.1981, Buchholz 402.24, § 28 AuslG Nr. 27, und vom 27.04.1982, BVerwGE 65, 250).

Die Klägerin hat im Falle einer Rückkehr in die Elfenbeinküste geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 3 AufenthG zu gewärtigen. Sie hat ernsthaft damit zu rechnen, in absehbarer Zeit einer Zwangsbeschneidung, die treffender als Genitalverstümmelung zu bezeichnen ist, unterzogen zu werden. Grundsätzlich werden in Cote d‘Ivoire ca. 60% aller Frauen Opfer einer Genitalverstümmelung (Vgl. amnesty international, Auskünfte vom 03.06.1997 - AFR 31- 97.024 - an das VG Oldenburg und vom 15.02.2001 - AFR 31-00.129 - an das VG Hamburg). Bei dem Stamm der Djoula wird nach einem Bericht des US-Außenministeriums vom 15.02.1997, ebenso wie bei anderen moslemischen Mande-Stämmen, grundsätzlich genitale Verstümmelung praktiziert (Vgl. VG Wiesbaden, Urteil vom 27.01.2000 - 5 E 31472/98.A -).

Die Genitalverstümmelung betrifft die Klägerin in einem verfolgungserheblichen Merkmal, nämlich dem für sie unverfügbaren Merkmal des weiblichen Geschlechts im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Anknüpfungspunkt der Verfolgungshandlung ist das mit der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht verbundene Vorhandensein - bislang unversehrter - weiblicher Geschlechtsorgane.

Der Einstufung der Genitalverstümmelung als Verfolgungsmaßnahme im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG kann nicht entgegen gehalten werden, sie diene nicht dazu, die Betroffenen aus der staatlichen Friedensordnung auszugrenzen, sondern verfolge gerade das Ziel, die betroffenen Mädchen und Frauen in die Gesellschaft zu integrieren.

Insoweit spricht bereits sehr viel dafür, dass es im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gar nicht auf die Frage ankommt, ob sich eine Maßnahme aus der Täterperspektive als Ausgrenzung darstellt oder aus dieser Sicht von redlichen Motiven geleitet ist. § 60 Abs. 1 AufenthG zeigt sich als eine Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 - sog. Qualifikationsrichtlinie - (Vgl. Duchrow, ZAR 2004, S. 339 ff.). Insbesondere führt die Vorschrift nunmehr eine Anpassung des deutschen Rechts an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 herbei (Vgl. Gesetzesbegründung zum Zuwanderungsgesetz, BTDrs. 15/420, S. 91). Bei einer an völkerrechtlichen Interpretationskriterien ausgerichteten Auslegung des Flüchtlingsbegriffs ist aber nicht der Urheber der Verfolgung entscheidend, sondern allein die Möglichkeit, staatlichen Schutz in Anspruch nehmen zu können. Diese dem Flüchtlingsvölkerrecht eigene Orientierung nicht an der Perspektive des Täters, sondern vielmehr an den Gesichtspunkten des Opferschutzes hat insbesondere in dem Wortlaut des hier maßgeblichen § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ihren Ausdruck gefunden (Vgl. UNHCR-Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Zuwanderungsgesetz, BR-Drs. 22/03). Die Klarstellung, dass eine Verfolgung bereits dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft, spricht gegen die Anknüpfung an weitere, täterbezogene Voraussetzungen.

Im Ergebnis kommt es auf diese rechtsdogmatische Frage indes nicht entscheidend an, da die Genitalverstümmelung die betroffene Frau tatsächlich aus der staatlichen Friedensordnung ausgrenzt. Das ausgrenzende Moment liegt darin, dass Frauen nicht nur zur Hinnahme der Verstümmelung gezwungen werden, um soziale Akzeptanz zu erfahren, sondern die Genitalverstümmelung zugleich dazu dient, ihre sozial untergeordnete Rolle zu festigen (Vgl. VG Gelsenkirchen, - Urteil vom 21.07.2004 - 10a K 5337/01.A - ; im Ergebnis ebenso VG Oldenburg, Urteil vom 07.05.2004 - 7 A 92/03 -).

Die der Klägerin drohende Genitalverstümmelung stellt auch nach Maßgabe von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG eine relevante nichtstaatliche Verfolgung dar, da der Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, nicht in der Lage sind, der Klägerin Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Zwar besteht in Cote d‘Ivoire seit dem Jahr 1998 ein gesetzliches Verbot der Genitalverstümmelung, wonach die Beschneidung mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit hohen Geldstrafen geahndet werden kann. Für praktische Ärzte, die Beschneidungen durchführen, kann das Strafmaß verdoppelt werden (Vgl. amnesty international, Auskünfte vom 15.02.2001, a.a.O. und vom 30.10.2003 - AFR 31-03.061 -, jeweils an das VG Hamburg).

Der angegebene Heimatort der Mutter der Klägerin befindet sich allerdings seit der Friedensvereinbarung von Marcoussis in der Einflusszone der Rebellengruppe Mouvement pour la justice et la paix - MJP - (Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.04.2003 - 508- 516.80/41131 - an das VG Oldenburg).

In dieser Rebelleneinflusszone ist der ivorische Staat mangels eigener Herrschaftsmacht nicht in der Lage, das gesetzliche Verbot der Genitalverstümmelung durchzusetzen. Gleiches gilt für die dort herrschende Rebellengruppe, wobei offen bleiben kann, ob diese überhaupt gewillt ist, die gesetzliche Regelung anzuwenden. Nach der im April 2003 aktuellen Auskunftslage bestanden nämlich in den Einflussbereichen der drei Rebellengruppen keine verfestigten Herrschaftsstrukturen und mithin auch keine funktionierenden Verwaltungsapparate (Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.04.2003, a.a.O.; amnesty international, Auskunft vom 03.04.2003 - AFR 31-03.015 - an das VG Oldenburg).

Für die Klägerin besteht auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative. Sie hat nicht die Möglichkeit, sich durch Umsiedelung in den von den Regierungstruppen beherrschten südlichen Landesteil der Genitalverstümmelung zu entziehen. Es kann insoweit dahin stehen, ob in der gegenwärtigen, instabilen Situation davon ausgegangen werden kann, dass das gesetzliche Verbot der Genitalverstümmelung zumindest in der Einflusszone der Regierungstruppen noch mit hinreichendem Nachdruck durchgesetzt wird. Denn in diesem Landesteil könnte das Überleben der Klägerin nicht mit hinreichender Sicherheit gesichert werden. Diese verfügt hier nämlich über keine familiären Bindungen, da die Familie sich in T. in der Rebellenzone aufhält. Angesichts dessen wäre die Klägerin darauf angewiesen, dass ihre unverheiratete und allein erziehende Mutter hier den Lebensunterhalt für sich und die Klägerin zu sichern vermag. Dies ist jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit möglich. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass eine alleinstehende Mutter in der Elfenbeinküste in die Prostitution getrieben wird, da sie ihren Lebensunterhalt auf andere Weise nicht sichern kann. Es gibt keine staatlichen Hilfen für betroffene Frauen und Mütter, allenfalls im Einzelfall Hilfen durch Nichtregierungsorganisationen (Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.10.2003 - 508- 516.80/41869 - an das VG Hamburg; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Elfenbeinküste: Rückkehrsituation für alleinerziehende Mutter", Gutachten der SFH-Länderanalyse vom 23.06.2004).