VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 03.03.2005 - 23 B 04.30734 - asyl.net: M6549
https://www.asyl.net/rsdb/M6549
Leitsatz:

Keine staatliche Verfolgung von Christen im Irak; keine allgemeine extreme Gefahrenlage durch Terrorismus oder Kriminalität; Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK setzt staatlich begründete Gefahren voraus.

 

Schlagwörter: Irak, Abschiebungsschutz, Terrorismus, Kriminalität, Menschenrechtswidrige Behandlung, Christen (katholische), Zuwanderungsgesetz, Gesetzesänderung, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Diabetes mellitus
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; RL 2004/83/EG Art. 15; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine staatliche Verfolgung von Christen im Irak; keine allgemeine extreme Gefahrenlage durch Terrorismus oder Kriminalität; Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK setzt staatlich begründete Gefahren voraus.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die nach ihrem Vortrag unverfolgt ausgereiste Klägerin hat nach Überzeugung des Senats zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak in Folge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht zu befürchten, auch nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit.

Mit der Entmachtung Saddam Husseins und der Zerschlagung seiner Machtstrukturen ist eine asylrelevante Verfolgung irakischer Staatsangehöriger durch dessen Regime nicht mehr möglich.

Allerdings sind im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung.

Nicht nur irakische Christen werden wegen ihrer Religionszugehörigkeit als "Handlanger der amerikanischen Streitkräfte" angesehen (DOI a.a.O.; UNHCR zu Asylverfahren irakischer Staatsangehöriger christlicher und mandäischer Religionszugehörigkeit vom 22.11.2004), sondern auch und vermehrt Bewerber und Anwärter für den öffentlichen Dienst (SZ vom 1.3.2005). Ziel dieser in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren (Auswärtiges Amt vom 2.11.2004, DOI vom 31.1.2005, jeweils a.a.O.).

Wie den genannten Informationsquellen weiter entnommen werden kann, ist gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Überfälle und Entführungen - alle Minderheiten werden überdurchschnittlich Opfer von Entführungen - sind an der Tagesordnung. Christliche Betreiber von Alkholgeschäften wurden das Ziel von Anschlägen und Plünderungen, weil sie mit dem Verkauf von Alkohol gegen islamische Bräuche verstoßen oder weil dies als Vorwand für Nachstellung durch private Neider eines lukrativen Geschäftszweiges genommen wird. Gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und in Mosul nahmen zu.

Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen sind die Übergriffe gegenüber Christen aber nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen begründen könnten (so auch OVG Rheinland-Pfalz vom 24.1.2005 Az. 10 A 10001/05.OVG).

Vor diesem Hintergrund sind staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Christen nicht ersichtlich. Daher kann schon nicht § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zur Anwendung kommen. Denn unmenschliche Behandlungen im Sinne dieser Vorschrift setzen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur Misshandlungen durch staatliche Organe voraus (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331). Zu einer Änderung seiner Rechtsprechung sah sich das Bundesverwaltungsgericht auch nicht durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes veranlasst, vielmehr betonte es in seinem Urteil vom 15.4.1997 (BVerwGE 104, 265 = NVwZ 1997, 1127 = DVBl 1997, 1384 = InfAuslR 1997, 341), dass landesweit drohende unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlungen grundsätzlich vom Abschiebezielstaat ausgehen oder von ihm zu verantworten sein müssen. Ausnahmsweise können auch Misshandlungen durch Dritte eine solche Behandlung darstellen, sofern sie dem Staat zugerechnet werden können, weil er sie veranlasst, bewusst duldet oder ihnen gegenüber keinen Schutz gewährt, obwohl er dazu in der Lage wäre. Dem Staat könne ferner solche staatliche Organisationen gleichstehen, die den jeweiligen Staat verdrängt haben, selbst staatliche Funktionen ausüben und auf ihrem Gebiet die effektive Staatsgewalt haben (BVerwG vom 15.4.1997 a.a.O. m.w.N.; vgl. nunmehr auch § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Verfolgungen durch solche Organisationen sind jedoch nicht gegeben.

Das Aufenthaltsgesetz brachte gegenüber dem bisherigen Ausländergesetz insoweit keine Veränderungen der Rechtslage. Der Wortlaut des § 53 Abs. 4 AuslG wurde unverändert in § 60 Abs. 5 AufenthG übernommen. Hätte der Gesetzgeber eine Ausweitung der Abschiebungshindernisse im Rahmen dieser Vorschrift beabsichtigt, hätte er deren Wortlaut ändern und anders fassen müssen. Dieses unterblieb jedoch. Aus der EU-Richtlinie 2004/83 vom 29. April 2004, welche spätestens am 10. Oktober 2006 in nationales Recht umgesetzt werden muss, kann die Klagepartei keine weitergehenden Ansprüche herleiten. Auch nicht aus deren möglicher Vorwirkung, weil die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz (Art. 15 der Richtlinie) nicht hinter dem Schutz zurückbleiben, den § 60 Abs. 2 ff. AufenthG gewährt.

Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, der der Klägerin bei Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt wäre, begründet ebenfalls keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az. I A 2-2084.20-13) die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt und verfügt, dass auslaufende Duldungen bis auf Weiteres um sechst Monate verlängert werden. Die Konferenz der Länderinnenminister hat wiederholt, zuletzt am 19. November 2004, die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak nicht möglich ist (vgl. u.a. Asylmagazin 2004/12 S. 17). Damit liegt eine Erlasslage im Sinne des § 60 a AufenthG vor, welche dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt, so dass der Klägerin nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung, etwa in verfassungskonformer Auslegung, zu gewähren wäre (zu § 53 Abs. 6 AuslG vgl. BVerwG vom 12.7.2001 NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48).

Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass für die Klägerin eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG), kehrte sie derzeit in den Irak zurück.