VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 17.02.2005 - 6 A 524/04 - asyl.net: M6529
https://www.asyl.net/rsdb/M6529
Leitsatz:

§ 73 Abs. 2 a AsylVfG ist nicht auf Altfälle anwendbar; eine verspätete Prüfung des Widerrufs verletzt nicht die Rechte des Betroffenen.

 

Schlagwörter: Serbien und Montenegro, Kosovo, Albaner, Widerruf, Nichtstaatliche Verfolgung, Unverzüglichkeit, Zuwanderungsgesetz, Ermessen, Zwingende Gründe
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

§ 73 Abs. 2 a AsylVfG ist nicht auf Altfälle anwendbar; eine verspätete Prüfung des Widerrufs verletzt nicht die Rechte des Betroffenen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Ob der Widerruf nach Eintritt erheblicher Veränderungen "unverzüglich" erfolgt, braucht im Widerrufsrechtsstreit nicht beurteilt zu werden, da diese Verpflichtung ausschließlich im öffentlichen Interesse besteht und subjektive Rechte der vom Widerruf Betroffenen insoweit nicht verletzt sein können (BVerwG, Beschl. vom 27.06.1997, NVwZ-RR 1997, 741; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 10.01.97 -1 L 3062/96 -; Beschl. vom 26.09.2003 - 13 LA 365/03 -; Hamburgisches OVG, Beschl. vom 30.09.1997 - Bf IV 49/97 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.05.1996 -19 A 1770196.A -; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.11.1996, VBlBW 1997, 151; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. vom 20.01.2000, InfAuslR 2000, 468; a.A. VG Frankfurt/M. Urt. vom 20.03.2000, InfAuslR 2000, 469; VG Stuttgart, Urt. vom 07.01.2003, AuAS 2003, 82).

Hieran hat sich auch durch die mit dem Zuwanderungsgesetz eingeführte Regelung in § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG nichts geändert. Diese Vorschrift ist im vorliegenden Fall im Übrigen nicht anwendbar. Nach der genannten Neuregelung hat die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen, spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen. Die Regelung gilt jedoch nicht für diejenigen Verfahren, in denen die Aufhebung eines vom Bundesamt vor dem In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes, d. h. vor dem 1. Januar 2005 erlassenen Widerrufsbescheides begehrt wird. Das ergibt sich schon aus dem Zweck der Vorschrift und der Übergangsregelung in Art. 15 Abs. 3 des Zuwanderungsgesetzes. Der Gesetzgeber hat mit dem § 73 Abs. 2 a AsylVfG eine obligatorische Pflicht des Bundesamtes zur Überprüfung von Anerkennungs- und Feststellungsentscheidungen eingeführt, weil die Widerrufsregelungen seiner Auffassung nach in der Praxis weitgehend leergelaufen waren. Mit der Neuregelung sollte erreicht werden, dass die Vorschriften an Bedeutung gewinnen (s. die Begründung des insoweit unverändert gebliebenen Regierungsentwurfs, Bundestags-Drucksache 15/420, S. 112). Es handelt sich also um eine Regelung, die sich im öffentlichen Interesse an einer regelmäßigen Überprüfung an das Bundesamt richtet. Der gesetzgeberischen Zielsetzung würde es jedenfalls nicht entsprechen, die Vorschrift bereits auf diejenigen Entscheidungen des Bundesamtes anzuwenden, in denen die Bestimmung noch nicht in Kraft war und von der Behörde daher noch gar nicht berücksichtigt werden konnte. Die Regelung in § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylVfG steht dem nicht entgegen. Es steht im Ermessen des Gesetzgebers, in einem späteren Gesetz ("lex posterior") besondere Regelungen über die Anwendung des neuen Rechts für einen Übergangszeitraum zu treffen und insoweit von dem im Übrigen weiter geltenden Grundsatz des für die rechtliche Prüfung maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts abzuweichen. So ist er auch hier verfahren.

Unabhängig davon würde auch die Verletzung der sich aus dem neuen § 73 Abs. 2 a Satz 1 AsylVfG ergebenden Verpflichtung des Bundesamtes nicht dazu führen, dass der Klage stattzugeben wäre. Auch diese Regelung steht - wie das Kriterium der "Unverzüglichkeit" in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - nach dem dargelegten Sinn und Zweck der Gesetzesergänzung ausschließlich im öffentlichen Interesse. Hält sich das Bundesamt bei seiner Widerrufsentscheidung nicht an die Vorschrift, so können subjektive Rechte des von dem Widerruf Betroffenen daher nicht verletzt sein; die Aufhebung des Widerrufsbescheides kann der Betroffene mit dem Hinweis auf die Fristverletzung nicht verlangen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht kann für das vorliegende Verfahren offen lassen, ob die Drei-Jahres-Frist anzuwenden und wie sie gegebenenfalls zu berechnen ist, wenn die zu widerrufende Entscheidung vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden, die Frist aber noch nicht abgelaufen ist und das Bundesamt erst nach dem In-Kraft-Treten der Regelung entscheidet.

Der Widerruf scheitert auch nicht an § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Damit soll der psychischen Sondersituation Rechnung getragen werden, in der sich ein Asylbewerber befindet, der ein besonders schwer wiegendes, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und dem es deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. vom 28.06.2002 - 8 LB 10/02 -; Hessischer VGH, Beschl. vom 28.05.2003, InfAuslR 2003, 400; Marx, AsylVfG, 5. Aufl., § 73 Rn.109; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: September 2004, § 73 AsylVfG, Rn. 29, 32; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 73 AsylVfG Rn. 10; ebenso bereits zum inhaltsgleichen § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG a. F.: VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 12.02.1986, NVwZ 1986, 957). Ob dem Widerruf daneben oder als Unterfall humanitärer Unzumutbarkeitserwägungen auch wirtschaftliche Gründe entgegenstehen können, braucht hier nicht abschließend geklärt zu werden. Denn auch die Befürworter der Berücksichtigungsfähigkeit wirtschaftlicher Gründe (etwa Marx, aaO., Rn. 108 unter Bezugnahme auf VG Frankfurt a. M., Urt. vom 22.02.2002, InfAuslR 2002, 371) stellen insoweit allein auf individuelle Gründe ab, die sich von der allgemeinen wirtschaftlichen Situation der Bevölkerung des Herkunftsstaates abheben. Das entspricht der grundsätzlich individuellen Konzeption des Asylrechts (BVerfG, Beschl. vom 10.07.1989, BVerfGE 80, 315, 334 ff.). Dementsprechend kann es auch bei § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG grundsätzlich nur um individuelle Gründe und nicht generell darum gehen, die im Allgemeinen schlechte wirtschaftliche Lage für die Bevölkerung und Probleme bei der Unterbringung im Heimatstaat als hinreichenden Grund für eine Rückkehrverweigerung anzuerkennen; der Wiederaufbau einer wirtschaftlichen Existenz im Heimatland ist nicht von vornherein unzumutbar (so zutreffend Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 73 AsylVfG Rn. 13). Ob ausnahmsweise etwas anderes anzunehmen wäre, wenn von vornherein feststünde, dass die wirtschaftlichen Mindestbedingungen für ein Überleben nicht gesichert wären, mithin die aus Verfassungsgründen beachtliche Grenze zu einer extremen Bedrohung (auch im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) überschritten wäre, braucht hier nicht entschieden zu werden.