VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 14.03.2005 - A 2 K 10264/03 - asyl.net: M6495
https://www.asyl.net/rsdb/M6495
Leitsatz:

Keine nichtstaatliche Verfolgung ethnischer Minderheiten im Kosovo, da internationale Verwaltung schutzbereit und -fähig ist; keine ausreichende Behandlungsmöglichkeit für posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo; kein Zugang zu medizinischer Versorgung im übrigen Serbien und Montenegro, da Registrierung nicht möglich ist; § 60 Abs. 1 AufenthG ist im Lichte der sog. Qualifikationsrichtlinie auszulegen; es besteht keine Übereinstimmung zwischen den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und dem Begriff der politischen Verfolgung; psychisch Kranke stellen keine Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar.

 

Schlagwörter: Flüchtlingsbegriff, Genfer Flüchtlingskonvention, Politische Verfolgung, Nichtstaatliche Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, Serbien und Montenegro, Kosovo, UNMIK, KFOR, Schutzfähigkeit, Serben, Allgemeine Gefahr, Erlass, Abschiebungsstopp, Abschiebungshindernis, Krankheit, Psychische Erkrankung, Medizinische Versorgung, Posttraumatische Belastungsstörung, Finanzierbarkeit, Sozialhilfe, Registrierung, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 2; RL 2004/83/EG Art. 6-8
Auszüge:

Keine nichtstaatliche Verfolgung ethnischer Minderheiten im Kosovo, da internationale Verwaltung schutzbereit und -fähig ist; keine ausreichende Behandlungsmöglichkeit für posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo; kein Zugang zu medizinischer Versorgung im übrigen Serbien und Montenegro, da Registrierung nicht möglich ist; § 60 Abs. 1 AufenthG ist im Lichte der sog. Qualifikationsrichtlinie auszulegen; es besteht keine Übereinstimmung zwischen den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und dem Begriff der politischen Verfolgung; psychisch Kranke stellen keine Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen in Bezug auf die Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vor.

Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist (Satz 1). Dabei kann eine Verfolgung im Sinne von Satz 1 ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (Satz 4).

Damit wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders als im bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II S. 559) Bezug genommen. Die vom Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 18.01.1994 - 9 C 48/92 -, BVerwGE, 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG erkannte Identität zwischen dem Begriff "politische Verfolgung" und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gilt für § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr. Maßgebend für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist nun der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (so auch: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -: Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.; Duchrow, ZAR 2004, 339). Wenn nun in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c) AufenthG ausdrücklich bestimmt wird, dass eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch von "nichtstaatlichen Akteuren" ausgehen kann, sofern der Staat einschließlich internationaler Organisationen "erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten", so stellt dies einen Perspektivwechsei von der "täterbezogenen" Verfolgung im Sinne der von der Rechtsprechung zu Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 AuslG entwickelten "mittelbaren staatlichen Verfolgung" zur "opferbezogenen" Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und damit von der "Zurechnungslehre" zur "Schutzlehre" dar (ebenso: VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -; vgl. ferner Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 79 ff.).

Diese veränderte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG ergibt sich zunächst daraus, dass die beiden auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 AuslG gestützten Argumente, die das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung dafür herangezogen hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG mit dem Begriff der "politischen Verfolgung" des Art. 16a Abs. 1 GG identisch sind, mit der Formulierung des § 60 Abs. 1 AufenthG entfallen sind. Zur Begründung hatte das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung zum einen die amtliche Überschrift des § 51 AuslG ("Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter") herangezogen. Die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG lautet nun jedoch lediglich: "Verbot der Abschiebung". Zum anderen hatte das Bundesverwaltungsgericht auf § 51 Abs. 2 S. 2 AuslG verwiesen, in dem andere Fälle geregelt waren, "in denen sich der Ausländer auf politische Verfolgung beruft". Diese Vorschrift wurde gestrichen bzw. wurde mit der Regelung des 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG modifizert. Die Änderung des Wortlauts der letztgenannten Vorschrift war möglich, weil die Regelung des § 51 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG ersatzlos entfallen ist. Damit wurde - was ebenfalls für die hier vertretene Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG spricht - das Vorliegen der Voraussetzungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vom Vorliegen der Asylberechtigung materiell-rechtlich entkoppelt, auch wenn für die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG weiterhin das Bundesamt zuständig und das AsylVfG anwendbar sein soll (§ 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG, § 5 AsylVfG); denn dies hängt mit der größeren länderspezifischen Sachkompetenz des Bundesamtes zusammen (vgl. auch § 72 Abs. 2 AufenthG). Des Weiteren ist aus dem Zusatz in § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG ("und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht") zu schließen, dass mit § 60 Abs 1 AufenthG das im Begriff der "politischen Verfolgung" enthaltene Merkmal der Verantwortlichkeit eines Staates keine Rolle mehr spielen soll. Generell ist in § 60 Abs. 1 AufenthG nur von "Verfolgung" und nicht von "politischer Verfolgung" die Rede.

Die Motive des Gesetzgebers deuten ebenfalls auf eine Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im oben genannte Sinne hin (BT-Drucksache 15/420, S. 91). Zwar entspricht nach diesen § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. In der folgenden Begründung des § 60 AufenthG wird jedoch in Bezug auf die Sätze 3-5 hervorgehoben, dass mit ihnen in zum Teil die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellender, zum Teil erstreckender Weise eine Anpassung an die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgen sollte und dass sich Deutschland nunmehr auch insoweit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union anschließt.

Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 Abs. 1 AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. "Qualifikationsrichtlinie", ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 Abs. 1 AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1 4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 Abs. 1 AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - "Inter-Environnement Wallonie ASBL", Sig. 1997, S. 1-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der "politischen Verfolgung" im Sinne der sog. "Zurechnungslehre", sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. "Schutztheorie" aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).

Das oben dargelegte Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG hat über das Begriffliche hinaus auch inhaltliche Konsequenzen. Der in § 60 Abs. 1 AufenthG festgelegte Standard erfordert einen effektiven Schutz vor Verfolgung, und zwar unabhängig davon, ob die Verfolgungshandlung einem staatlichen Träger zugerechnet werden kann oder nicht (VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -). Kommt es auf die Zurechenbarkeit im Sinne der "mittelbaren staatlichen Verfolgung" nach der neuen Rechtslage nicht mehr an, kann danach Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure auch vorliegen, wenn der Staat bzw. die internationalen Organisationen trotz prinzipieller Schutzbereitschaft Personen oder Gruppen vor der Verfolgung durch Dritte nicht effektiv schützen können (UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Ziff. 65). Von einer mangelnden Schutzgewährung ist dabei nicht nur dann auszugehen, wenn die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel keinen effektiven Schutz gewähren können oder die Übergriffe unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen haben (vgl. zu Art. 16a Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 -, BVerfGE 80, 315 ff). Vielmehr kommt es unter dem Gesichtspunkt der Schutzgewährung darauf an, ob der Schutz im konkreten Einzelfall effektiv und angemessen ist (so auch VG Stuttgart, Urteil v. 17.01.2005 - A 10 K 10587/04 -), wobei hier bei der prognostischen Prüfung der Frage, ob der zur Verfügung gestellte Schutz effektiv ist, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass effektiver Schutz gewährt wird, wenn die in § 60 Abs. 1 S. 4 Buchstaben a) und b) AufenthG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG sowie Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 117 f. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des House of Lords).

In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass die ethnischen Minderheiten im Kosovo vor Verfolgung effektiv geschützt sind.

Im Kosovo sind ca. 17.800 KFOR-Soldaten stationiert (Stand: September 2004). UNMIK ist flächendeckend in den Verwaltungen aller Landkreise vertreten. Der Aufbau einer lokalen, multiethnischen Polizei ist weit vorangetrieben worden. Auch das Justizwesen wird auf multiethnischer Grundlage wieder aufgebaut. Am 23.10.2004 haben im Kosovo mittlerweile die zweiten Parlamentswahlen stattgefunden, die insgesamt friedlich und ohne Zwischenfälle verlaufen sind (vgl. hierzu den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004; Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Serbien und Montenegro/Kosovo, Berichtszeitraum August bis Dezember 2004, Stand: Dezember 2004; ferner zu § 51 Abs. 1 AuslG und Art. 16a Abs. 1 GG: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.03.2000 - A 14 S 1167/98 -, Urt. v. 16.03.2000 - A 14 S 2443/98 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss v. 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -).

Aus den Unruhen vom März 2004 ist eine hiervon abweichende Beurteilung nicht - mehr - ableitbar: Die KFOR hat aufgrund der nach den Unruhen erfolgten Entsendung von weiteren 2.000 Soldaten die Sicherheitslage nun wieder unter Kontrolle.

Für das Vorliegen eines Verbots der Abschiebung nach § 60 Abs.2, 3, 5 AufenthG ist ebenfalls nichts ersichtlich. Insbesondere sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. dem insoweit in Betracht kommenden Art. 3 EMRK nicht erfüllt. Denn Art. 3 EMRK setzt nach der durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorgenommenen Auslegung dieser Vorschriften voraus, dass dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung durch staatliche oder eine staatsähnliche Gewalt eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Urt. v. 02.09.1997 - 9 C 40/96 -, BVerwGE 105, 105, 187; Urt. v. 15.04.1997 - 9 C 38/96 -, BVerwGE 104, 265). Die Entscheidung des EGMR vom 07.03.2000, wonach sich Art. 3 EMRK auch auf Situationen erstrecken könne, in denen die Gefahr von Personen oder Personengruppen ausgehe, die kein öffentliches Amt inne hätten, entfaltet insoweit keine (strikte) rechtliche Bindungswirkung über den Kreis der am Verfahren unmittelbar Beteiligten und über den entschiedenen Einzelfall hinaus (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997, a.a.O.; Urt. v. 16.12.1999 - 4 CN 9/98 -, BVerwGE 110, 203) Die nationalen Gerichte haben die Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 -). Dem hat das BVerwG indessen bereits (hilfsweise) in seiner Entscheidung vom 15.04.1997 Rechnung getragen; es hat sich lediglich aus den von ihm angeführten "besseren Gründen" (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.12.1999, a.a.O.) zu einer abweichenden Auslegung des Art.3 EMRK berechtigt angesehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 22.02.2005 - A 6 S 724/04-).

Soweit vorgetragen wird, einer ethnischen Minderheit im Kosovo anzugehören, kann damit nicht die beantragte Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs.7 S.1 AufenthG erlangt werden. Denn damit sind nur allgemeine, einer ganzen Bevölkerungsgruppe drohende Gefahren geltend gemacht worden, die grundsätzlich nur im Rahmen einer politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs.1 S.1 AufenthG berücksichtigt werden können (vgl. § 60 Abs.7 S.2 AufenthG).

Eine ausnahmsweise Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs.7 S.2 AufenthG ist hier auch nicht von Art. 1 Abs.1, Art. 2 Abs.2 S.1 GG verfassungsrechtlich geboten, weil nach der derzeitigen ausländerrechtlichen Erlasslage ein dem § 60 Abs.7 S.1 AufenthG gleichwertiger Abschiebeschutz gewährt wird (vgl. zu § 53 Abs.6 AuslG: BVerwG, Urteil v. 12.07.2001 - 1 C 2/01 -, BVerwGE 114, 379; BVerwG, Beschluss v. 12.04.2001 - 1 B 21/01 -; VGH Bad.-Württ., Urteil v. 27.04.2000 - A 14 S 2559/98 -).

Hiervon ausgehend ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin zu 2) bei ihrer Rückkehr in das Kosovo wegen der medizinisch für erforderlich gehaltenen regelmäßigen psychotherapeutischen Behandlung, die keine größere Unterbrechung duldet, eine diesen Maßstäben genügende Gesundheitsverschlechterung droht.

Bei einer Rückkehr der Klägerin zu 2) in das Kosovo kann nicht davon ausgegangen werden, dass ihre Erkrankung dort im erforderlichen Umfang behandelt werden kann. Denn es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin zu 2) die zur Behandlung erforderliche psychotherapeutische Behandlung in ihrem Heimatland nicht erlangen kann. Dies begründet eine erhebliche Gefahr für ihre Gesundheit.

Dies gilt zunächst für das Kosovo, aus dem die Klägerin zu 2) stammt. Dort ist lediglich eine medikamentöse und nervenärztliche Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung sichergestellt, wobei insgesamt noch von einer schwachen Grundversorgung im psychiatrischen Bereich auszugehen ist. Auf der Stufe der primären staatlichen Gesundheitsversorgung verfügen sieben der insgesamt 34 Gesundheitszentren über ambulante neuro-psychiatrische Dienste (Pristina, Podujevo, Vushtrri, Klina, Mitrovica, Ferizaj und Gjilan). Dort arbeiten ein bis zwei Psychiater und wenige Schwestern Das Leistungsvermögen dieser Dienste ist beschränkt, stationäre Behandlung nicht möglich. Auf der Stufe der sekundären staatlichen Gesundheitsversorgung verfügen fünf der insgesamt sechs regionalen Krankenhäuser über psychiatrische stationäre Abteilungen (Pristina, Prizren, Peja, Gjakove, Mitrovica). Diese Abteilungen haben im Durchschnitt 30 Betten für Neurologie und Psychiatrie zusammen. In Pristina gibt es 160 Betten (90 für Neurologie und 70 für Psychiatrie), die nicht alle belegt sind. Die Behandlung in diesen Abteilungen besteht in der Regel aus supportiven Gesprächen und in der Abgabe von Medikamenten. Darüber hinaus können Menschen, die an psychischen Problemen leiden auch in den im Jahr 2003 aufgebauten kommunalen "Mental Health Care Centers" in Pristina, Prizren, Gjakove, Peje, Gjilan, Ferizaj und Mitrovica ambulant und kostenfrei behandelt werden. In diesen Zentren werden "einfache Formen der Psychotherapie", der Arbeitstherapie und andere nicht-medikamentöse Behandlungsformen für psychisch Kranke angeboten (Auskunft des deutschen Verbindungsbüros Kosovo v. 04.06.2004 an das VG Stuttgart, kritisch zu den Leistungen der "Mental Health Care Centers" und dem Begriff „einfache Psychotherapie" Schlüter-Müller, Stellungnahme vom 16.06.2004). Da die Kapazitäten auf dem Gebiet der psychiatrischen Versorgung in keinem Verhältnis zum Bedarf stehen, haben eine große Anzahl von Patienten keinen Zugang zu einer angemessenen psychiatrischen Behandlung (vgl. UNMIK und Gesundheitsministerium des Kosovo, Asylmagazin 2005, 29).

Dagegen kann die ärztlicherseits für erforderlich gehaltene regelmäßige psychotherapeutische Behandlung nur durch zwei privat praktizierende Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie mit einer im Ausland erworbenen Zusatzqualifikation im Bereich Psychotherapie/Gesprächstherapie durchgeführt werden. Die Honorare dieser Ärzte werden frei durch den Arzt festgelegt. Eine Konsultation kostet zwischen € 35 und € 65. Die Wartezeiten liegen zwischen einer und drei Wochen (Bundesamt, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro/Kosovo - Themenpapier -, Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen, Stand: Februar 2004, S. 4-12; Auskunft des deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 26.01.2004; ebenso: VG Stuttgart, Urt. v. 05.07.2004 - A 11 K 11725/03 - Asylmagazin, 2004, S. 28 und VG Hamburg, Beschluss v. 07.07.2004 - 15 E 2941/04 - Asylmagazin 2004, 25).

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 2) die Kosten für die Durchführung einer solchen privatärztlichen Therapie im Kosovo bezahlen könnte. Es ist unwahrscheinlich, dass sie als psychisch Kranke Frau im Kosovo bei einer Arbeitslosenquote von geschätzten 57 % (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) vom 04.11.2004) ihren Lebensunterhalt selbst verdienen könnte. Daher wäre die Klägerin zu 2) aller Voraussicht nach auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe angewiesen, die für eine Einzelperson 34 € beträgt und die als alleinige Einkommensquelle unter Berücksichtigung der lokalen Lebenshaltungskosten kaum zum Leben ausreicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien und Montenegro (Kosovo) v. 04.11.2004).

Der Klägerin zu 2) droht wegen ihrer Erkrankung auch landesweit eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Denn sie kann nicht darauf verwiesen werden, sich im übrigen Serbien und Montenegro (ohne Kosovo) behandeln zu lassen. Denn die Klägerin zu 2) kann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dort eine medizinische Behandlung nicht erreichen (ebenso: VG Stuttgart, Urt. v. 05.07.2004 - A 11 K 11725/03 - Asylmagazin, 2004, S. 28 und VG Hamburg, Beschluss v. 07.07.2004 - 15 E 2941/04 - Asylmagazin 2004, 25).

Denn Personen mit Wohnsitz im Kosovo müssen für medizinische Leistungen in Serbien und Montenegro die hohen Tarife für Ausländer zahlen und haben keinen Anspruch auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung. Ein Anspruch auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung Serbien und Montenegros besteht nur für Personen, die im Besitz serbisch-montenegrinischer Personaldokumente sind und in Serbien und Montenegro (ohne Kosovo) ihren Wohnsitz haben. Notwendig für die polizeiliche Anmeldung ist der Nachweis von Wohneigentum oder der Abschluss eines Mietvertrages. Mangels eines festen Wohnsitzes in Serbien und Montenegro kann auch durch eine Registrierung als Binnenvertriebener bzw. intern Umgesiedelter Zugang zum serbisch-montenegrinischen Gesundheitssystem erlangt werden. Diese Registrierung bereitet in der Praxis große Schwierigkeiten, weil Binnenvertriebene nicht immer über die notwendigen Personalpapiere verfügen. Abgesehen davon ist eine Umsiedlung vom Kosovo ins übrige Serbien und Montenegro mit dem Problem behaftet, dass wegen der großen Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen in Serbien kaum ein legaler Zugang zu Wohnraum möglich ist.

Die Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in Bezug auf die psychische Erkrankung der Klägerin zu 2) wird schließlich auch nicht durch § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG gesperrt. Zwar mag zutreffen, dass die Anzahl traumatisierter Menschen aus dem Kosovo groß ist. Für die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG und die insoweit sich aus Satz 2 dieser Vorschrift ergebende Begrenzung kommt es jedoch allein auf solche Erkrankungen an, bei denen bei einer Abschiebung die in dieser Vorschrift genannten Gefahren bestehen. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung bestehen jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass in jedem Fall davon auszugehen ist, dass die Rückkehr in das Kosovo Gefahren erwarten lässt, die die Notwendigkeit von Abschiebungsschutz begründen. Es liegt in der Natur einer psychischen Erkrankung, die auf von vielen Menschen in gleicher oder ähnlicher Weise erlebten Ereignissen beruht, dass sie nicht allein durch diese Ereignisse entsteht, sondern vielmehr in der Individualität des Erlebten ihre Ursache hat. Personen, die - wie die Klägerin zu 2) - in Folge individueller Ereignisse traumatisiert sind, stellen somit keine Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar (vgl.: VG Stuttgart, Urt. v. 05.07.2004 - A 11 K 11725/03 - Asylmagazin, 2004, S. 28 und VG Hamburg, Beschluss v. 07.07.2004 - 15 E 2941/04 - Asylmagazin 2004, 25).