VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 19.02.2004 - 5 E 7021/03.A(3) - asyl.net: M6461
https://www.asyl.net/rsdb/M6461
Leitsatz:

§ 51 Abs. 1 AuslG für allein stehende Mutter zweier nichtehelicher Kinder aus Afghanistan wegen mittelbarer Verfolgung; Kabul stellt für Personen, die nicht von dort stammen, keine inländische Fluchtalternative dar.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Paschtunen, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Bundesverfassungsgericht, Schwangerschaft, Taliban, Soziale Gruppe, Alleinstehende Frauen, Nichteheliche Kinder, Geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsheirat, Häusliche Gewalt, Entführung, Schutzfähigkeit, Politische Verfolgung, Mittelbare Verfolgung, Kabul, Interne Fluchtalternative, Alleinerziehende Frauen
Normen: AsylVfG § 71; VwVfG § 51; AuslG § 51 Abs. 1; GFK Art. 1 Abs. 2
Auszüge:

Gleichwohl liegen im Falle der Klägerin zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) die Voraussetzungen vor, um ein Abschiebungsverbot i. S. d. § 51 Abs. 1 AuslG wegen drohender politischer Verfolgung in Afghanistan festzustellen. Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die Klägerin muss im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zum gegenwärtigen Zeitpunkt befürchten, aufgrund bestimmter persönlicher Merkmale, die asylerheblich sind, der Gefahr einer politischen Verfolgung ausgesetzt zu sein. Eine solche Gefahr ergibt sich für die Klägerin aus ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der der alleinstehenden Frauen mit nichtehelichen Kindern. Es handelt sich hierbei um eine speziell Frauen treffende geschlechtsspezifische Verfolgung. Dass eine auf das Geschlecht bzw. auf die geschlechtliche Orientierung bezogene Bestrafung und Misshandlung im Einzelfall politische Verfolgung darstellen kann, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht allgemein anerkannt (vgl. nur BVerwG, Urteil v. 15.03.1988 ­ 9 C 278/86, BVerwGE, 79, 143 - hier zur homosexuellen Prägung; Urteil v. 06.03.1990 - 9 C 14/89, BVerwGE 85, 12 und Urteil v. 08.09.1992 - 9 C 8/91, BVerwGE 90, 364 - ­jeweils Zwangsentführungen und Zwangsverheiratungen christlicher Frauen durch Moslems in der Türkei betreffend; Urteil v. 06.08.1996 - 9 C 172/95, BVerwGE 101, 328 - geschlechtsspezifische Verfolgung im Rahmen so genannter "ethnischer Säuberungen" in Bosnien).

Auch im Flüchtlingsvölkerrecht ist anerkannt, dass eine auf das Geschlecht zielende Verfolgung geeignet sein kann, die Flüchtlingseigenschaft i.S.d. Art. 1 (2) des Abkommens von 1991 über die Rechtstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - zu erfüllen (vgl. nur die Richtlinie des UNHCR zum internationalen Schutz: "Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Art. 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 07.05.2002, NVwZ-Beilage I 2003, Seite 65; vgl. ferner die Richtlinie des UNHCR zum internationalen Schutz betreffend "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" im Zusammenhang mit Artikel A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 07.05.2002, NVwZ-Beilage I 2003, S. 70). Die Klägerin müsste als unverheiratete Mutter zweier nichtehelicher Kinder zum gegenwärtigen Zeitpunkt für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit einer auf ihr Geschlecht gerichteten politischen Verfolgung rechnen. Dies folgt aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen. Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 06.08.2003 aus, dass ungeachtet einer im November 2002 erfolgten Begnadigung von 20 Frauen durch Präsident Karsai, die sich wegen Unzucht, Ehebruchs oder anderer "moralischer" Verstöße in Haft befanden, viele Frauen weiterhin wegen so genannter Sexualdelikte inhaftiert seien, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten, vor einem gewalttätigen Ehemann geflohen waren oder ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben. Eine Verteidigung ihrer Rechte sei in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt werde, nicht einfach. Jedoch seien die von den Taliban gegen Frauen erlassenen und insbesondere die Freizügigkeit und die Ausbildungs- wie Arbeitsmöglichkeiten betreffenden Verbote formal nicht mehr in Kraft. Gleichwohl hätten sich nur begrenzte Verbesserungen ergeben. Dies liege unter anderem an der weiterhin strengen Ausrichtung an Traditionen, fehlender Schulbildung sowie an den für viele noch unsicheren Zukunftsperspektiven. Auch eine Delegation der niederländischen Regierung teilt in ihrem Bericht vom August 2002 mit, dass sich die Situation von Frauen wegen der konservativen Traditionen in vielen Teilen Afghanistans auch nach dem Fall der Taliban nicht signifikant verändert hätte. Viele der traditionellen Bräuche in ländlichen Regionen seien extrem restriktiv für Frauen (Seite 44). Auch UNHCR weist in seiner von September 2003 erstellten aktualisierten Darstellung der Lage in Afghanistan darauf hin, dass Verschleppungen und Entführungen von Frauen im ganzen Land vorkämen. Der Status von Frauen in der afghanischen Gesellschaft und die praktischen Gegebenheiten führten dazu, dass Untersuchungen solcher Vorfälle extrem schwierig seien. UNHCR verweist insoweit auf einen Bericht der UN-Menschenrechtskommission vom 13.01.2003 und auf einen weiteren Bericht der UN-Kommission betreffend den Status von Frauen vom 23.01.2003, die sich jeweils mit der Situation von Frauen in Afghanistan ausführlich befassen. Darüber hinaus hat UNHCR in seiner afghanische Asylsuchende betreffenden Stellungnahme vom Juli 2003 darauf hingewiesen, dass trotz ermutigender Fortschritte für die Lebensbedingungen von Frauen in Afghanistan Diskriminierungen und konservative kulturelle Bräuche fortbestehen und bisweilen zu Gewalttaten und sogar Tötungen ("Ehetötungen") führen. Daher sehe UNHCR sowohl Frauen, die ohne wirksame männliche Unterstützung und/oder Beistand der Gemeinschaft seien, sowie Frauen, von denen angenommen werde, dass sie soziale Normen verletzen oder die es tatsächlich tun, in einer besonderen Gefährdungssituation und halte diese daher für schutzbedürftig i. S. d. Genfer Flüchtlingskonvention.

Zwar kann aufgrund der geschilderten aktuellen Erkenntnislage nicht mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer unmittelbaren staatlichen Verfolgung durch Behörden der Regierung Karsai ausgesetzt wäre. Gleichwohl drohte der Klägerin eine asylerhebliche politische Verfolgung, weil aufgrund der gegebenen Erkenntnislage davon auszugehen ist, dass die Regierung Karsai jedenfalls derzeit nicht in der Lage ist, vor entsprechenden auf das Geschlecht der Klägerin zielenden Übergriffen durch dritte Personen, gegebenenfalls auch durch Amtswalter, hinreichend zu schützen. Diese mangelnde Schutzfähigkeit muss sich die afghanische Regierung zurechnen lassen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 2.7.1980 - 1 BvR 147,181/80; BVerfGE 54, 341; st. Rspr.), so dass bei der Klägerin für den Fall der Rückkehr eine Gefahr politischer Verfolgung i. S. d. § 51 Abs. 1 AuslG besteht. Dies wird im Ergebnis, ohne dass dies das vorliegende Urteil zu beeinflussen vermochte, zum einen durch die jüngste Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Sächsische Oberverwaltungsgericht Bautzen vom 17.02.2004 bestätigt, wonach die afghanische Zentralregierung nicht über die notwendigen Machtmittel verfügt, um ihre Bürger in ausreichendem Maße zu schützen. In weiten Teilen des Landes herrsche ein Zustand der Rechtlosigkeit. Der Einfluss der Zentralregierung sei insbesondere in den Provinzen begrenzt bzw. praktisch nicht vorhanden. Zum anderen teilt das Auswärtige Amt in seinem - für die vorliegende Entscheidung freilich unerheblichen - jüngsten Lagebericht vom 22.4.2004 mit, dass "staatliche Akteure aller drei Gewalten (...) häufig nicht in der Lage ­ oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt (seien) ­ Frauenrechte zu schützen (S. 23).

Die konkrete Gefährdungslage der Klägerin ergibt sich zum einen daraus, dass sie als allein stehende Frau und Mutter zweier nichtehelicher Kinder dem Vorwurf ausgesetzt wäre, gegen grundlegende moralische Vorstellungen der afghanischen Bevölkerung verstoßen zu haben und dass ein solcher Verstoß gegen die islamischen Sitten und Moralvorstellungen nicht gebilligt sondern gegebenenfalls auch geahndet werden müsste. Zum anderen geriete die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine konkrete Gefährdungssituation, weil sie nicht darauf verwiesen werden kann, den Schutz von Familienangehörigen in Anspruch zu nehmen. Sie hat bereits gegenüber dem Bundesamt überzeugend und glaubhaft dargelegt und diese Angabe in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht bekräftigt, dass Familienangehörige von ihr derzeit nicht in Afghanistan leben.

Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen kommt auch ein Verweis auf die Hauptstadt Kabul als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Denn auch dort wäre die Klägerin - trotz etwas stabilerer Sicherheitslage - einer konkreten Gefährdung von ihrer und ihrer Kinder Leib und Leben ausgesetzt. Ohne dass dies das vorliegende Urteil zu beeinflussen vermochte, wird dieser Befund bestätigt durch die Ausführungen des Auswärtigen Amtes in seinem bereits genannten neuen Lagebericht vom 22.4.2004, demzufolge die Lage in der afghanischen Hauptstadt (nur) für frühere Bewohner Kabuls "in Teilen ausreichend sicher" sei (S. 11). Die Klägerin stammt hingegen aus Jalalabad und hat keine Beziehung zu Kabul.