OLG Hamm

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Zitieren als:
OLG Hamm, Beschluss vom 01.07.2004 - 3 Ws 185/04 - asyl.net: M6452
https://www.asyl.net/rsdb/M6452
Leitsatz:

Ein Bediensteter der Ausländerbehörde macht sich der Freiheitsberaubung und der leichtfertigen Vollstreckung gegen Unschuldige schuldig, wenn er einen Ausländer trotz Ablehnung des Antrags auf richterliche Anordnung der Abschiebungshaft in Gewahrsam nehmen lässt oder im Gewahrsam behält oder wenn er nach Ingewahrsamnahme eines Ausländers nicht unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Dauer der Freiheitsentziehung herbeiführt.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Klageerzwingungsantrag, Freiheitsberaubung, Leichtfertige Vollstreckung gegen Unschuldige, Richtervorbehalt, Abschiebungshaft, Ausländerbehörde, Polizei, Ingewahrsamnahme, Unverzüglichkeit
Normen: StGB § 239 Abs. 1; StGB § 245; StPO § 172 Abs. 3 S. 1; AuslG § 57; FEVG § 1; FEVG § 3; FEVG § 5; FEVG § 11; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 104
Auszüge:

Die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft Essen vom 16. September 2003 und die bestätigende Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft vom 12. März 2004 werden aufgehoben.

Die Erhebung der öffentlichen Klage gegen den Beschuldigten wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Vollstreckung gegen Unschuldige gemäß §§ 239 Absatz 1, 345 Absatz 1, 52 StGB wird angeordnet (§ 175 StPO).

Das Ergebnis der Ermittlungen gibt Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, weil danach bei vorläufiger Bewertung der Tat eine Verurteilung des Beschuldigten ... wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit leichtfertiger Vollstreckung gegen Unschuldige zu erwarten ist.

A) Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte nach der Haftvorführung beim Amtsgericht ... am 18.9.2000 durch seine Anordnung, den Antragsteller zur Verhinderung der Fortsetzung einer Straftat, hier des illegalen Aufenthaltes, durch die anwesende Polizei in Gewahrsam zu nehmen und ihn bis zur Abschiebung am 19.9.2000 in den Hafträumen der Polizei in ... festhalten ließ, eine Straftat der Freiheitsberaubung gemäß § 239 Abs. 1 StGB begangen hat.

Diese Handlung des Beschuldigten war rechtswidrig, denn eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zur (weiteren) Festnahme des Antragstellers bestand nicht.

Der Beschuldigte hat insbesondere dabei den nach Art. 104 Absatz 2 GG zu beachtenden Richtervorbehalt unberücksichtigt gelassen.

Nach dem Vortrag des Antragstellers und den Feststellungen der Staatsanwaltschaft war dieser am 18.9.2000 bereits um 12.30 Uhr seitens des Beschuldigten als Vertreter der Ausländerbehörde zum Zwecke der Vorführung vor das Amtsgericht Dorsten festgenommen worden.

Die Ausländerbehörde darf nach dem geltenden bundesgesetzlichen Ausländerrecht aus eigener Machtvollkommenheit niemanden zur Sicherung der Abschiebung vorläufig in Abschiebehaft oder Abschiebungsgewahrsam nehmen (BVerfGE 62,317; BGH NJW 1993, 3069; OLG Frankfurt; NVwZ-Beil. 1996, 38; BayObLGZ 1996, 180).

Die Voraussetzungen, unter denen Zwangsmaßnahmen zur Durchführung von Abschiebehaft ergriffen werden dürfen, bestimmen sich vielmehr nach § 57 AuslG; §§ 1, 3, 5, 11 FEVG, Art. 2 II, 104 I2 GG. Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes, den weiteren verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird ( BVerfGE aaO).

Danach bedarf jede von der zuständigen Ausländerbehörde veranlasste, mit der Abschiebung in Zusammenhang stehende auf Freiheitsentziehung gerichtete Zwangsmaßnahme einer vorherigen richterlichen Anordnung (OLG Frankfurt NVWZ 1998, 213 f OLG Zweibrücken, NStZ 2002, 256, 257). Dies gilt selbst dann, wenn die Freiheitsentziehung im Zusammenhang mit der unmittelbaren Durchführung der Abschiebung steht und nur kurzfristig erforderlich ist (OLG Frankfurt NVwZ 1998, 213 f)

Dementsprechend wird die Auffassung vertreten, für die Ausländerbehörde bestünde grundsätzlich keine Ermächtigung einen Ausländer zur Vorführung vor den Abschiebungshaftrichter festzunehmen (OLG Zweibrücken aaO; BGH NJW 1993, 30.69), auch nicht aus den landesgesetzlichen Bestimmungen zum Polizeigewahrsam (OLG Zweibrücken aaO). Vielmehr sei sie gehalten, zunächst einen richterlichen Haftbeschluss gemäß § 57 AuslG zu erwirken, der dann eine Ermächtigung zur Festnahme des Ausländers beinhaltet. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE aaO) ausdrücklich offen gelassen, ob eine diesen Eingriff umfassende Rechtsgrundlage in § 49 AuslG, der allgemeinen Regelung über die Abschiebung als Vollstreckungsmaßnahme zur Durchsetzung der Ausreisepflicht oder im allgemeinen Polizeirecht gefunden werden kann.

Letztlich kann diese Frage unentschieden bleiben.

Ausweislich des Abschiebehaftantrages hat sich die Ausländerbehörde offensichtlich hinsichtlich der vorherigen Festnahme des Betroffenen auf §§ 24 OBG NW, 35 Abs. 1-Nr.2 PolG NW berufen wollen, was sich aus der Aufnahme der zitierten Vorschriften im Haftantrag ergibt.

Selbst wenn § 35 PolG NW eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage zur vorläufigen Festnahme eines Ausländers zum Zwecke der Abschiebehaft darstellen würde, hat der Haftrichter des Amtsgerichts am Nachmittag des 18.9.2000 durch Beschluss die Anordnung von Abschiebehaft nach § 57 AuslG mit der Begründung fehlender Illegalität ausdrücklich abgelehnt und damit inzident auch die Voraussetzungen des Polizeigewahrsam mangels Illegalität verneint. Entscheidungsunerheblich ist, dass der Beschluss materiell-rechtlich fehlerhaft ist, da entgegen der Auffassung des Amtsrichters der Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich illegal war.

Der Entscheidungsinhalt des amtsrichterlichen Beschlusses war dem Beschuldigten auch noch am 18.9.2000 bekannt gegeben worden, was sich aus dem handschriftlichen Vermerk des Betroffenen vom 18.9.2000 ergibt, in dem dieser auf den Beschluss des Amtsgerichts und der Erklärung des Richters "er müsse den Antrag ablehnen" ausdrücklich Bezug genommen hat.

Der Beschuldigte hätte daher den Antragsteller gemäß §138 Absatz 1 Ziffer 2 PolG NW im Anschluss an die Haftvorführung unmittelbar entlassen müssen, da die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung für unzulässig erklärt worden war.

Der Beschuldigte war auch nicht berechtigt, im Anschluss an die Haftvorführung den Antragsteller erneut gemäß § 35 PolG NW bis zur tatsächlichen Abschiebung am nächsten Tag in Gewahrsam zu nehmen. Eine erneute Ingewahrsamnahme hätte allenfalls aufgrund neuer tatsächlicher Umstände erfolgen dürfen. Neue tatsächliche Umstände sind aber nicht eingetreten. Aufgrund der unverändert bestehenden Sachlage war eine erneute Ingewahrsamnahme dagegen unzulässig. Die erneute Ingewahrsamnahme des Beschuldigten stellt sich vielmehr augenscheinlich als Fortsetzung der mit Beantragung der Abschiebehaft versuchten gesicherten Abschiebung des Antragstellers dar.

Aber selbst wenn § 35 PolG die Ingewahrsamnahme des Antragstellers gerechtfertigt hätte, wäre der Beschuldigte gemäß § 36 Absatz 1 PolG verpflichtet gewesen, unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Dauer der Freiheitsentziehung herbeizuführen.

Der Beschuldigte handelte auch schuldhaft. Der Beschuldigte hat sich zwar dahingehend eingelassen, es entspräche der üblichen Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden der Bundesrepublik Deutschland, den Betreffenden zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebungsverfügung in Polizeigewahrsam zu geben. § 13 FEVG impliziere, dass eine vorläufige auf Freiheitsentziehung hinaus laufende Verwaltungsmaßnahme gesetzlich vorgesehen sei.

Gerade deshalb entspräche es auch regelmäßiger Übung der Ausländerbehörden, illegal im Bundesgebiet aufhältige Personen vorläufig festnehmen zu lassen, um innerhalb der genannten Frist eine einstweilige richterliche Anordnung gemäß § 11 FEVG herbeizuführen.

Diese Einlassung lässt die Vorsatzschuld des Beschuldigten nicht entfallen. Denn spätestens nach der Entscheidung des Haftrichters am 18.9.2000 bestand keine gesetzliche Grundlage zur weiteren Freiheitsentziehung des Antragstellers. Vielmehr wird aus der Einlassung deutlich, dass dem Beschuldigten gerade bekannt war, eine richterliche Anordnung über die Zulässigkeit der Haft herbeiführen zu müssen.

Der Vollständigkeit halber wird nur am Rande darauf hingewiesen, dass bei § 13 FEVG keine eigene Ermächtigungsgrundlage der Verwaltungsbehörde zur Festnahme von Ausländern darstellt, sondern lediglich die verfahrensrechtliche Handhabung einer auf einer bundes- oder landesgesetzlich (vgl. § 36 Abs.2 S.2 PolG) materiell-rechtlichen Ermächtigungsgrundlage vorgenommenen Festnahme regelt (Firsching/Dodegge Vormundschafts- und Betreuungsrecht 6. Auflage 1999, Rn 538)

B) Durch die erneute Anordnung der Ingewahrsamnahme durch den Beschuldigten verwirklichte dieser auch den objektiven Tatbestand der Vollstreckung gegen Unschuldige gemäß § 345 StGB. Der Beschuldigte hat als Amtsträger, der zur Mitwirkung an der Vollstreckung einer behördlichen Verwahrung nach § 35 Polizeigesetz ( Schönke-Schröder-Cramer StGB § 343 Rn. 5) berufen ist, eine solche Verwahrung vollstreckt, obwohl sie nach dem Gesetz aus formellen Gründen (trotz entgegenstehender richterlicher Anordnung bzw. ohne erneute richterliche Anordnung bzw. zumindest Beantragung derselben) nicht vollstreckt werden durfte. Insoweit kann auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen werden.