VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 22.02.2005 - AN 15 K 04.31820 - asyl.net: M6451
https://www.asyl.net/rsdb/M6451
Leitsatz:

Mittelbare Gruppenverfolgung von armenischen Volkszugehörigen, zumindest wenn sie ihre Volkszugehörigkeit nicht verbergen können; Gefährdung bei gemischt-ethnischer Herkunft jedenfalls dann, wenn keine aserbaidschanische Schutzperson vorhanden ist; keine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach, da das Gebiet kein Teil von Aserbaidschan mehr ist, aber auch faktisch nicht erreichbar und das Existenzminimum nicht gesichert ist.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Staatsangehörigkeit, Gewöhnlicher Aufenthalt, Gemischt-ethnische Abstammung, Glaubwürdigkeit, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft, Korruption, Wohnraum, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Berg-Karabach, Interne Fluchtalternative, Gebietsgewalt, Erreichbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Mittelbare Gruppenverfolgung von armenischen Volkszugehörigen, zumindest wenn sie ihre Volkszugehörigkeit nicht verbergen können; Gefährdung bei gemischt-ethnischer Herkunft jedenfalls dann, wenn keine aserbaidschanische Schutzperson vorhanden ist; keine inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach, da das Gebiet kein Teil von Aserbaidschan mehr ist, aber auch faktisch nicht erreichbar und das Existenzminimum nicht gesichert ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass die Verfolgung vom Staat ausgeht, sie kann auch von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. b AufenthG. Auch eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure fällt unter § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG, wenn nicht der Staat oder ihm gleichgestellte Parteien oder Organisationen in der Lage und willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten oder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht.

Diese Voraussetzungen liegen bei den Klägerinnen vor. Die Klägerin zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung einen glaubwürdigen und überzeugenden Eindruck gemacht, so dass sich das Gericht von dem geltend gemachten Verfolgungsschicksal hinreichende Gewissheit verschaffen konnte.

1.1.

Maßgebend für eine politische Verfolgung ist in erster Linie das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.10.1985, NVwZ 1986, 579). Im vorliegenden Fall ist es fraglich, ob die Klägerinnen tatsächlich die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit erworben haben. Denn nach dem hier in Betracht zu ziehenden Art. 5 Ziffer 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes der aserbaidschanischen Republik vom 30. September 1998, sind Staatsbürger der aserbaidschanischen Republik unter anderem Personen, "die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft besaßen (Grundlage: Registrierung der betreffenden Personen in ihrem Wohnort in der aserbaidschanischen Republik, bevor dieses Gesetz in Kraft trat)". Wie das Auswärtige Amt mit Auskunft vom 28. April 2003 an das VG Schleswig mitgeteilt hat, ist bei armenischen Volkszugehörigen in der Regel sieben Jahre, nach dem sie sich nicht mehr an ihrem Wohnsitz aufhielten, eine Abmeldung von Amts wegen erfolgt. Weiter wurden im Jahre 1998 die aserbaidschanischen Meldebehörden angewiesen, diejenigen armenischen Volkszugehörigen abzumelden, die sich de facto nicht mehr dauerhaft in der Republik Aserbaidschan aufhielten (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 2.4.2003 an das VG Schleswig). Da die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben hatte, dass sie ursprünglich am Wohnort ihres Vaters offiziell gemeldet gewesen sei und nachfolgend trotz mehrfacher Umzüge sich nicht mehr umgemeldet habe, liegt die Vermutung nahe, dass die Klägerinnen in Aserbaidschan abgemeldet wurden bzw. nie die erforderliche Meldung besaßen.

Die Staatsangehörigkeit der Klägerinnen muss hier aber nicht abschließend geklärt werden, weil die Klägerinnen in jedem Fall ihren tatsächlichen Aufenthalt in Baku und damit in Aserbaidschan glaubhaft gemacht haben. Denn für die Frage nach dem asylrechtlich maßgebenden Verfolgerstaat kommt es auf das Land des gewöhnlichen Aufenthalts an, wenn die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates nicht erkennbar ist (BVerwG a.a.O.). Maßgebend für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts sind nur die faktischen Verhältnisse, nicht etwa ein rechtsgeschäftlicher Wille zur Wohnsitzbegründung oder die polizeiliche Meldung. Ausschlaggebend ist daher, wo sich die Klägerinnen unter Umständen aufgehalten hat, die darauf schließen lassen, dass sie dort nicht nur vorübergehend verweilt haben. Dies ist der tatsächliche Lebensmittelpunkt, an dem sich eine Person hauptsächlich aufhält.

1.2.

Die Kläqerinnen haben weiterhin glaubhaft gemacht, armenische Volkszuqehörige aus Aserbaidschan bzw. Abkömmling einer armenisch-aserbaidschanischen Mischehe (Klägerin zu 2) zu sein.

1.3.

Zur Situation für armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan ist von Folgendem auszugehen:

Als Reaktion auf Massenkundgebungen in Eriwan und Stepanakert für den Anschluss von Berg-Karabach an Armenien kam es ab Februar 1988 in Aserbaidschan zu Pogromen an der fast 500.000 Personen zählenden armenischen Minderheit in Aserbaidschan. Die Armenier starben meist unter grausamsten Umständen. Ihr Eigentum wurde geplündert oder zerstört, ihre Wohnungen nach der Flucht von Aserbaidschanern beschlagnahmt. Die Massaker wurden von den aserbaidschanischen Stellen nicht nur geduldet, sondern auch organisatorisch unterstützt. Als Folge dieser Ereignisse flüchteten die Armenier, bis auf etwa 10.000 bis 30.000 Personen, insbesondere Ehegatten (vor allem armenische Ehefrauen) von Aserbaidschanern, aus dem Land. Nach den Lageberichten Aserbaidschan des Auswärtigen Amtes (u.a. vom 21.7.1997 und 22.10.1998 sowie vom 13.4.1999) unterliegen in dieser Republik Angehörige der armenischen Minderheit, wie das Auswärtige Amt ausdrücklich feststellt "in hohem Maße einer mittelbaren staatlichen Verfolgung". Weiter weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass es der Staat unterlässt, diese Volksgruppe vor der Wut, Diskriminierung und Verfolgung durch Aserbaidschaner wegen der Ereignisse in Berg-Karabach wirksam zu schützen. Armenische Volkszugehörige, selbst wenn sie die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit besitzen, leben danach in Aserbaidschan praktisch recht- und schutzlos. Der Staat schreitet hiergegen aus opportunistischen Gründen nur sehr selten ein und duldet, dass eine Minderheit praktisch im Untergrund in Angst und Schrecken leben muss und zum Überleben auf Almosen und sonstige Unterstützung einer wohlmeinenden Bevölkerungsminderheit angewiesen ist, die sich bei Entdeckung selbst Repressalien ausgesetzt sieht. Auch in den Lageberichten vom 29. Januar 2002 und vom 11. Mai 2001 verweist das Auswärtige Amt darauf, dass Personen armenischer Abstammung faktisch vielfach schlechter behandelt werden als andere Personengruppen, ohne dass staatliche Stellen, von Ausnahmen abgesehen, dies wirksam unterbinden würden. Eine grundsätzliche Besserung der Lage im Vergleich zum Lagebericht vom 13. April 1999 ist daher nicht ersichtlich, zumal es an jeglichen Angaben dazu fehlt, weshalb sich die Lage für die Armenier verbessert haben soll. Dies gilt umso mehr, als die Ursache für die Verfolgung der armenischen Minderheit, nämlich der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien wegen Berg-Karabach weiterhin ungelöst ist. Die zurückhaltenderen Formulierungen des Auswärtigen Amtes ab dem Lagebericht vom 16. März 2000 dürften zum Teil darauf beruhen, dass seit dem Regierungswechsel das Auswärtige Amt bestrebt ist, keine rechtlichen Wertungen oder Schlussfolgerungen mehr vorzunehmen (vgl. die grundsätzlichen Anmerkungen zu diesem Lagebericht unter Ziffer 2). Die Einschätzung über die Schlechterbehandlung von Armeniern und fehlende staatliche Schutzbereitschaft wird bestätigt durch die Jahresberichte des US-Außenministeriums über die Praxis der Menschenrechte (Länderreporte Aserbaidschan) vom 4. März 2002 und vom 31. März 2003, in welchen unter den Stichworten "religiöse Minderheiten" und "ethnische Minderheiten" von einer intensiven und populären Feindseligkeit gegen die Armenier berichtet wird, die im Land vorherrscht. Danach versuchen die meisten der noch verbliebenen 10 - 30.000 Armenier, hauptsächlich Ehefrauen von aserbaidschanischen oder russischen Ehegatten, ihre nationale Identität zu verbergen. Übereinstimmend mit dem UNHCR (Bericht vom Oktober 1999) wird darauf verwiesen, dass die Zahl der Probleme zwischen Aserbaidschanern und Armeniern auf Grund der Vertreibung fast der ganzen armenischen Minderheit, also nicht durch eine veränderte Einstellung der Aserbaidschaner, abgenommen hat und die noch verbliebenen sich über Diskriminierung bei Beschäftigungen und über Bedrängnisse an Schulen, Arbeitsplätzen bei Rentenzahlung, Passausstellung und Verweigerung medizinischer Versorgung beklagen. Der UNHCR weist in seiner Stellungnahme vom 22. Februar 2000 darauf hin, dass in ihrer Gesamtheit betrachtet die Maßnahmen gegen Angehörige der armenischen Minderheit durch die lokale Bevölkerung oder die lokalen Sicherheitskräfte in vielen Fällen die Intensität politischer Verfolgung auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit der Betroffenen annimmt. Das Transkaukasus-Institut (Stellungnahme vom 2.10.2002) sieht diejenigen armenischen Volkszugehörigen politischer Verfolgung ausgesetzt, die wegen nicht benötigter Fähigkeiten und mangelnder Kenntnis der aserbaidschanischen Sprache keine Aussicht haben, irgendeine, auch nicht legale Tätigkeit auszuüben, oder die auf medizinische Versorgung angewiesen sind bzw. die religiöse armenisch-apostolische Christen sind. Unter gesamter Würdigung der genannten neueren Berichte, Auskünfte und Stellungnahmen muss derjenige mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit fehlendem staatlichen Schutz vor weiteren Übergriffen Dritter und daher mit politischer Verfolgung rechnen, dessen armenische Volkszugehörigkeit erkennbar geworden ist und bei dem zusätzlich der Schutz durch einen Familienangehörigen aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit nicht besteht. Diese Umstände sind hier gegeben.

Im Hinblick auf die minderjährige Klägerin zu 2) gilt, dass auch sie - wenn auch nur zur Hälfte armenischer Abstammung - dennoch auf Grund des Todes ihres aserbaidschanischen Vaters und der alleinerziehenden armenischen Mutter in Aserbaidschan als armenische Volkszugehörige anzusehen wäre. Auch steht ihr keine aserbaidschanische Schutzperson zur Verfügung.

Soweit vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 9. Januar 2003 mitgeteilt wird, die Benachteiligung der armenischen Volkszugehörigen bestehe nicht durchgängig und ein Großteil der Nachteile gehe auf allgemeine Korruption zurück sowie, dass derartige Probleme nicht aufträten, wenn man über eine hohe soziale Stellung, Geld oder besondere Beziehungen verfüge, ist dem entgegen zu halten, dass die Klägerinnen, wie der Großteil der armenischen Minderheit in Aserbaidschan, weder eine hohe soziale Stellung noch besondere Beziehungen hat und dass bei der Bestechung durch Personen armenischer Abstammung ein hoher "Armenierzuschlag" verlangt wird, der über das von anderen Personen verlangte Bestechungsgeld weit hinausgeht und das 20ig-fache und mehr etwa für das Ausstellen falscher Dokumente beträgt (vgl. die detaillierten Ausführungen in der Stellungnahme des Transkaukasus-Instituts vom 2.10.2002 unter 1.3).

Es ist wegen der armenischen Herkunft der Klägerinnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie bei einer Rückkehr keine Wohnung erhalten würden. Der Markt des Wohnraums im Eigentum der öffentlichen Hand wäre den Klägerinnen wegen ihrer Herkunft verschlossen (Stellungnahmen des Transkaukasus-Instituts vom 6.6.2003, Seite 8; vom 2.6.2003, Seite 11). Auch private Vermieter würden zumindest zur Vermeidung von Ärger nicht an Personen armenischer Herkunft vermieten (Stellungnahme des Transkaukasus-Instituts vom 2.6.2003 Seite. 11, vom 6.6.2003 Seite 8). Insgesamt wären die Klägerinnen mangels Arbeit und Sozialleistungen sowie mangels Unterkunft einem Leben unterhalb des Existenzminimums ausgesetzt. Dafür wäre auch der aserbaidschanische Staat, soweit es den öffentlichen Sektor angeht, unmittelbar verantwortlich. Im Übrigen wäre er mittelbar verantwortlich, weil er die Verhältnisse im Bereich von Arbeitsmöglichkeiten und Wohnunterkünften von Personen armenischer Herkunft kennt, aber nichts unternimmt, etwa durch Bereitstellung von Unterkünften aus dem öffentlichen Sektor oder indem er rechtswidrig mit sonstigen Flüchtlingen belegte Wohnungen von Armeniern wieder an Armenier zurück gibt (vgl. hierzu den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9.1.2003 unter II. 1 b).

1.4. Die dargelegten Gefährdungen drohen der Klägerin in Aserbaidschan landesweit.

1.4.1. Auf Berg-Karabach als inländische Fluchtalternative kann in diesem Zusammenhang schon deshalb nicht abgestellt werden, weil es sich durch Sezession aus Aserbaidschan endgültig ausgegliedert hat. Denn Aserbaidschan hat dort spätestens seit Anfang 1993 (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 8.10.1999 an das VG Berlin) keinerlei Gebietsherrschaft mehr und unternimmt seit dem Waffenstillstand vom Mai 1994 auch keinen ernsthaften Versuch, sie auf militärischer Ebene wieder zu gewinnen. Auf diplomatischer Ebene ist nicht erkennbar, dass sich in absehbarer Zeit Lösungen dahingehend abzeichnen könnten, die Aserbaidschan wieder eine Gebietsherrschaft in Berg-Karabach verschaffen würden. Berg-Karabach seinerseits hat sich am 10. Dezember 1991 für. unabhängig erklärt (vgl. die Lageberichte "Aserbaidschan" des Auswärtigen Amtes) und hat nach der Erklärung der Unabhängigkeit auch eine eigene, wenn auch von keinem Staat anerkannte, Staatsangehörigkeit festgelegt (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 8.1.1997 an das VG München). Berg-Karabach hat im Übrigen alle Merkmale einer präsidialen Demokratie und alle Insignien eines unabhängigen Staates, nämlich ein eigenes Parlament, einen Staatspräsidenten und ein eigenes Parteiensystem. Seit 1992 hat es eine reguläre Armee (vgl. etwa die Stellungnahme der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 29.6.2000 an das VG Augsburg). Der so durch Sezession von Aserbaidschan abgespaltete Teil (Berg-Karabach) wird zum Ausland und kann schon aus rechtlichen Gründen nicht mehr inländische Fluchtalternative sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.12.1998, InfAuslR 1999, 145). Im Übrigen wäre faktisch für eine inländische Fluchtalternative auch Voraussetzung, dass diese erreichbar ist (BVerwG, Urteil vom 16.1.2001, DVBl 2001, 667, Urteil vom 13.5.1993 9 C 59.92). Von Aserbaidschan aus ist Berg-Karabach nicht zugänglich (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.9.2002 an das OVG Koblenz). Auch von Armenien aus wäre eine Einreise nach Berg-Karabach nur mit einem Visum, das einen gültigen Nationalpass voraussetzt, möglich. Ein solcher wird Armeniern aber selbst gegen 2.000 oder 3.000 US-Dollar Schmiergeld in Aserbaidschan nicht erteilt (vgl. Transkaukasus-Institut vom 2.10.2002 unter I. 3 und III. 1).

1.4.2.

Zum anderen wäre es für die Klägerinnen als alleinstehende Frau mit einer minderjährigen Tochter aber auch nicht möglich, in Berg-Karabach ein Existenzminimum zu finden.