OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 28.02.2005 - 11 LB 121/04 - asyl.net: M6450
https://www.asyl.net/rsdb/M6450
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Krankheit, Sexuelle Übergriffe, Psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Medizinische Versorgung, Traumatisierte Flüchtlinge, Retraumatisierung, Abschiebungshindernis
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Nach Auswertung der Akten, der darin enthaltenen ärztlichen Stellungnahmen und des eingeholten Gutachtens der I. vom 19. Juli 2004 liegen bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) vor.

Nach den Darlegungen im eingeholten Gutachten der I. GmbH vom 19. Juli 2004 steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin kurze Zeit nach ihrer Hochzeit von türkischen Sicherheitsbeamten in gravierender Weise sexuell misshandelt worden ist und aufgrund dieser erlittenen Übergriffe an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

Die posttraumatische Belastungsstörung als solche führt für sich genommen noch nicht zur Gewährung von Abschiebungsschutz. Erforderlich ist vielmehr, dass sich die Erkrankung bei Rückkehr ins Heimatland verschlimmert.

Nach dem Gutachten vom 19. Juli 2004 ist bei Rückführung der Klägerin in die Türkei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit einer schwerwiegenden Retraumatisierung, und daraus folgend mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome und der depressiven Symptomatik und daraus folgend mit einer vollständigen Dekompensation der Persönlichkeit der Klägerin zu rechnen.

Der Senat hält diese Schlussfolgerung des Gutachtens - ­trotz der dagegen vom Beklagten vorgebrachten Kritik - ­für plausibel.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass es durchaus in der Türkei Behandlungsmöglichkeiten für psychisch Erkrankte, auch für an einer posttraumatischen Belastungsstörung Leidende, gibt. So werden für die Behandlung der PTBS in der Türkei die international anerkannten Klassifikationssysteme ICD10 und DSMIV angewandt. Zu Behandlungskonzepten zählen ­wie auch in West-Europa üblich ­unter anderem Psychotherapie ... , Atemtraining, Förderung des positiven Denkens und Selbstgespräche, kognitive Therapie, ... sowie Medikationen wie Antidepressiva und Benzodiazepine. Die Versorgung psychisch kranker Menschen ist im Privatsektor vergleichsweise günstig. So wurden in Istanbul in den letzten Jahren mehrere moderne psychiatrische Krankenhäuser mit einem differenzierten Behandlungsangebot und ambulanter Betreuungsmöglichkeit eingerichtet. Grundsätzlich ist die Situation psychisch Kranker in der Türkei allerdings gekennzeichnet durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter Versorgungsangebote (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei v. 01.06.2004, Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei").

Trotz der grundsätzlich gegebenen Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen würde die Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Besonderheit des Falles jedoch für sie eine erhebliche Gefahr darstellen.

Die Klägerin ist in einem außergewöhnlich starkem Maße psychisch erkrankt.

Wenn sich die Klägerin aber schon in Deutschland von den Stimmen der sie misshandelnden türkischen Sicherheitskräften nicht lösen kann und schon bei uniformierten Personen in Deutschland in Panik gerät und bei diesen Anlässen die traumatischen Erlebnisse sie immer wieder neu überrollen, ist diese Gefahr aufgrund der aus dem Gutachten ersichtlichen besonderen psychischen Situation der Klägerin um ein Vielfaches stärker vorhanden, wenn sie zurück in die Türkei gehen müsste, und zwar unabhängig davon, ob sie sich unmittelbar am eigentlichen "Ort des Geschehens" aufhalten oder sich in anderen Gebieten der Türkei, beispielsweise im Westen niederlassen würde. Allein das Bewusstsein, wieder in dem Land zu sein, in dem die Übergriffe gegen sie stattgefunden haben, würde die Klägerin extrem belasten. Dass allein der Begriff "Türkei" bei der Klägerin die ohnehin vorhandenen Ängste erheblich verstärkt, wird schon daran deutlich, dass sie "kein türkisches Fernsehen sehen (will)", "das macht mir Angst" (Gutachten S. 49). Auch die Gefahr, uniformierte Personen zu sehen ist in der (gesamten) Türkei höher zu veranschlagen als im Bundesgebiet. Der Senat teilt daher die Einschätzung im Gutachten, dass es bei Rückkehr in die Türkei eine große Anzahl traumaspezifischer Trigger (= Auslöser für Flashbacks, also das Wiederdurchleben der Situation, das sich fühlen, als ob man noch einmal in der Situation wäre ­vgl. Gutachten S. 57) geben würde. Dass sich diese Trigger bei Rückkehr in die Türkei ­- egal an welchen Ort - ­aufgrund der Schwere der Erkrankung der Klägerin gegenüber ihrem Vorhandensein im Bundesgebiet noch steigern würden, liegt auf der Hand. Daraus leitet sich aber wiederum die hohe Gefahr einer schwerwiegenden Retraumatisierung mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome gegenüber dem jetzigen ohnehin schon sehr angegriffenen Gesundheitszustand der Klägerin ab. Wenn überhaupt besteht nach Einschätzung des Senats in diesem besonderen Einzelfall lediglich außerhalb der Türkei für die Klägerin die Möglichkeit, nach langjähriger Behandlung eventuell ihren psychischen Zustand zu stabilisieren. Zureichende Anhaltspunkte, dass die Klägerin zu einer derartigen Behandlung nicht bereit ist, liegen nicht vor.

Die im Gutachten für den Fall der Rückkehr befürchtete vollständige Dekompensation der Persönlichkeit der Klägerin ist zudem nicht nur vor dem Hintergrund der bei Rückkehr in die Türkei verstärkt auftretenden Trigger nachvollziehbar.

Bei zusammenfassender Auswertung der in den Akten befindlichen Unterlagen und des vom Senat eingeholten Gutachtens hält es der Senat für nahezu sicher, dass die Klägerin sich bei Rückkehr in die Türkei in kurzer Zeit völlig aufgeben würde. Damit liegt aber eine konkrete erhebliche, letztlich sogar eine extreme Gefahrenlage vor.

Die vom Beklagten zitierte Entscheidung des OVG Münster vom 24. November 2003 - 15 A 4374/95 ­- juris) führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieses hat darin ausgeführt, die mit einer posttraumatischen Belastungsstörung verbundenen psychischen Folgen, z.B. Traurigkeit, Pessimismus, Interesse, Lust- und Freudlosigkeit sowie Antriebsarmut, stellten noch keine den Leib oder das Leben konkret bedrohende Gefahren dar. Erforderlich sei vielmehr die Feststellung weiterer gefahrbegründender Umstände. Derartige weitere Umstände liegen jedoch

- ­wie dargelegt - ­im vorliegenden Fall vor. Die psychische Erkrankung der Klägerin geht weit über die vom OVG Münster aufgezählten Symptome hinaus. Die Klägerin ist nicht nur antriebsarm oder traurig und pessimistisch; sondern sie befindet sich in einem Zustand, dass sie das von ihr in der Türkei Erlebte dauernd wieder erlebt, ohne sich dagegen wehren oder abgrenzen zu können. Ihr innerer Kampf gegen das Wiedererleben der traumatischen Situation hat bei ihr zu einem Erschöpfungszustand im höchsten Grade geführt, der sich nahezu in einer absoluten Teilnahmslosigkeit gegenüber Haushalt und den Bedürfnissen ihrer Zwillinge äußert. Die im Gutachten nach Auffassung des Senats zu Recht befürchtete Dekompensation der Klägerin bei Rückkehr in die Türkei geht mithin deutlich über die im o.a. Beschluss des OVG Münster genannten typischen Erscheinungsformen einer PTBS hinaus.