VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 14.03.2005 - 5 B 16/05 - asyl.net: M6447
https://www.asyl.net/rsdb/M6447
Leitsatz:
Schlagwörter: Dringende persönliche Gründe, Schulbesuch, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Türken, Vorläufige Anwendungshinweise, Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ermessen
Normen: AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 5 Abs. 3 Hs. 2
Auszüge:

Nach § 25 Abs. 4 AufenthG kann einem Ausländer für einen vorübergehenden Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern (Satz 1). Nach Satz 2 der Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 verlängert werden, wenn auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebiets für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Die noch in § 30 Abs. 2, 2. Halbsatz AuslG vorhandene Einschränkung: "soweit der Ausländer nicht mit einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet rechnen durfte, sind die Dauer des bisherigen Aufenthalts des Ausländers und seiner Familienangehörigen nicht als dringende humanitäre Gründe anzusehen" findet sich im Regelungszusammenhang des § 25 Abs. 4 AufenthG nicht mehr. Damit ist dem gesetzgeberischen Anliegen der stärkeren ausländerrechtlichen Berücksichtigung erfolgter Integration während eines längeren Aufenthalts Rechnung getragen worden.

Nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Zuwanderungsgesetz (BT-Drs. 15/420, S. 79 f.) kommt als dringender persönlicher Grund i. S. d. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG der Abschluss einer Schulausbildung in Betracht. Die Regelung des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG eröffnet die Möglichkeit der Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis für Personen, deren Abschiebung bislang lediglich nach § 55 Abs. 3 AuslG ausgesetzt werden konnte.

Nach den ­- das behördliche Ermessen lenkenden ­- vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesministeriums des Inneren zum Aufenthaltsgesetz vom 22. Dezember 2004, Ziffer 25.4.1.3, kann ein dringender persönlicher Grund i. S. d. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG im bevorstehenden Abschluss einer Schulausbildung gesehen werden, wenn sich der Schüler bereits kurz vor dem angestrebten Abschluss, also zumindest im letzten Schuljahr befindet. Nach Ziffer 25.4.1.5 gilt dies jedoch nur, wenn das mit dem weiteren Aufenthalt angestrebte Ziel nicht auch in zumutbarer Weise im Ausland erreicht werden kann.

Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Vorgaben ist zu beachten, dass sich der Antragsteller seit der Einreise in das Bundesgebiet im Jahre 1995 in Schulausbildung befindet und entsprechend der vorgelegten Schulbescheinigung derzeit die 11. Klasse der Fachoberschule ... besucht. Nach den vorgelegten Schulzeugnissen geht er der Schulausbildung engagiert nach und nutzt den Schulbesuch nicht etwa nur, um sich den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu sichern. Entsprechend seiner Leistungen ist zu erwarten, dass er nach Abschluss der 12. Klasse im Sommer 2006 die Fachhochschulreife erwerben wird und damit seine Schulausbildung abschließt. Angesichts der Dauer des bisherigen Schulbesuchs, der Einreise in das Bundesgebiet im Alter von 8 Jahren und der durch Schulzeugnisse nachgewiesenen Leistungen ist der Antragsteller als in das hiesige Schulsystem integriert anzusehen. Bei Fortsetzung der Schulausbildung in der Türkei würde er nicht nur mit anderen Lebensverhältnissen und einer anderen sprachlichen Umgebung, sondern auch mit einem anderen Schulsystem konfrontiert. Ob er in der Türkei einen der Fachhochschulreife entsprechenden Abschluss erreichen könnte, erscheint wegen der erforderlichen Umstellung fraglich. Zumindest würde er aber voraussichtlich in seinen Leistungen weit zurückgeworfen werden. Die Kammer sieht für den Antragsteller deshalb einen dringenden persönlichen Grund i. S. d. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als gegeben an. Zwar befindet sich der Antragsteller entgegen der vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Inneren im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht im letzten Schuljahr. Demgegenüber ist aber zu berücksichtigen, dass sich die verbleibende Schulzeit im Verhältnis zu der bereits im Bundesgebiet absolvierten Schulzeit als gering darstellt, nach Absolvierung der 11. Schulklasse an der Fachoberschule Technik kein Schulabschluss erworben wird und das im August 2005 beginnende letzte Schuljahr nahezu erreicht ist. Insgesamt erscheint dem Antragsteller ein Abbruch der im Bundesgebiet begonnenen Schulausbildung zum jetzigen Zeitpunkt nicht zumutbar (vgl. mit ähnlichen Erwägungen zu einer im Juli 2006 endenden Schulausbildung im Ergebnis ebenso VG Bremen, Beschluss vom 18.1.2005 - 4 V 2519/04 ­).

Soweit der Antragsgegner darauf hinweist, dass wegen des fortdauernden Bezugs von Sozialhilfe und des Fehlens eines gültigen Passes die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 AufenthG nicht erfüllt seien, ist zu beachten, dass gemäß § 5 Abs. 3, 2. Halbsatz AufenthG in Fällen des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG abgesehen werden kann. Zudem handelt es sich lediglich um Regelerteilungsvoraussetzungen.

Eine Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG unter Absehen von den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG hat der Antragsgegner bislang nicht getroffen, zumal nach der bei Erlass des Bescheides vom 7. Juli 2004 geltenden Rechtslage im Hinblick auf die noch nicht abgeschlossene Schulausbildung des Antragstellers lediglich die Duldung des weiteren Aufenthalts nach § 55 Abs. 3 AuslG, nicht aber die Erteilung der beantragten Aufenthaltsgenehmigung in Betracht gekommen wäre. Die Ermessensentscheidung wird bei Erlass des Widerspruchsbescheides bzw. im Klageverfahren nachzuholen sein. Dabei geht die Kammer derzeit davon aus, dass den genannten privaten Belangen des Antragstellers im Hinblick auf die Dauer seines bisherigen Aufenthalts, die Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse und fehlende Anhaltspunkte für eine etwaige Straffälligkeit keine durchgreifenden öffentlichen Interessen entgegenstehen und die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist.