VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 04.03.2005 - 12 K 196/03.A - asyl.net: M6386
https://www.asyl.net/rsdb/M6386
Leitsatz:

Keine landesweite Gruppenverfolgung von Tschetschenen in der Russischen Föderation; Flüchtlingsanerkennung nach Verfolgung wegen Verdachts der Zugehörigkeit zu tschetschenischen Rebellen; keine Sippenhaft; posttraumatische Belastungsstörung behandelbar.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgungsprogramm, Kämpfer (ehemalige), Misshandlungen, Haft, Verfolgungszusammenhang, Fahndungslisten, Interne Fluchtalternative, Sippenhaft, Posttraumatische Belastungsstörung, Psychische Erkrankung, Medizinische Versorgung, Abschiebungshindernis, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine landesweite Gruppenverfolgung von Tschetschenen in der Russischen Föderation; Flüchtlingsanerkennung nach Verfolgung wegen Verdachts der Zugehörigkeit zu tschetschenischen Rebellen; keine Sippenhaft; posttraumatische Belastungsstörung behandelbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zwar kann der Kläger zu 1), ebenso wie auch die Kläger zu 2) bis 4), Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht schon deshalb beanspruchen, weil generell tschetschenische Volkszugehörige in der Russischen Föderation politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wären. Tschetschenische Volkszugehörige sind nach der dem Prozessbevollmächtigten der Kläger bekannten Rechtsprechung der Kammer (vgl. u. a. Kammerurteile vom 09.11.2004 - 12 K 209/03.A - und vom 11.07.2003 -12 K 77/02.A) nicht landesweit in der Russischen Föderation politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, die nach ihrer Intensität und Häufigkeit einer mittelbaren oder unmittelbaren Gruppenverfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. u. a. BVerwG, Urteile vom 24.09.1992 - 9 B 130/92 -, NVwZ 1993, 192 und vom 06.08.1996 - 9 C 172.95 -, InfAuslR 1997,36) gleichkommen.

Gegen eine solche Annahme spricht insbesondere, dass dem Auswärtigen Amt nach wie vor keine gesicherten Erkenntnisse darüber vorliegen, dass tschetschenische Volkszugehörige nach ihrer Rückführung in die Russische Föderation besonderen Repressionen ausgesetzt waren (Vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 13.12.2004 a.a.O.; ferner Auskunft an OVG Rheinland-Pfalz vom 19.01.2004 - 508-516.80/42213 -), wonach es auch im Anschluss an den zweiten Tschetschenienkrieg keine Übergriffe und Freiheitsbeeinträchtigungen gegen sämtliche Tschetschenen gegeben habe, überdies den tschetschenischen Volkszugehörigen verfolgungsfreie Orte vor allem in Inguschetien, Dagestan oder der Wolgaregion zur Verfügung gestanden hätten und es auch derzeit keine generelle Verfolgungssituation dieser Volkszugehörigen gebe.).

Es fehlen auch hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm mit dem Ziel der Vernichtung oder gewaltsamen Vertreibung aller Tschetschenen aus dem Staatsgebiet der Russischen Föderation.

Der Kläger zu 1) hat durch seine ergänzend zu dem beim Bundesamt vorgetragenen Verfolgungsschicksal gemachten Angaben im Rahmen seiner informatorischen Anhörung durch die Kammer glaubhaft darzulegen vermocht, dass er vor seiner Ausreise aus Tschetschenien in das Blickfeld russischer Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit dem Vorwurf geraten ist, ein tschetschenischer Rebell zu sein bzw. mit den tschetschenischen Rebellen zusammenzuarbeiten. Er hat nach dem vom Gericht gewonnen persönlichen Eindruck überzeugend und damit glaubhaft geschildert, dass er im Februar 2000 im Rahmen einer sog. "Säuberungsaktion" durch russische Soldaten verhaftet, mit diesem Vorwurf konfrontiert und im Rahmen seiner Haft misshandelt worden ist.

Die Festnahme des Klägers zu 1) sowie die körperlichen Übergriffe, denen er im Rahmen seiner Inhaftierung ausgesetzt war, stellen ersichtlich eine zielgerichtete politische Verfolgung dar, da sie zumindest auch an asylrechtsrelevante Merkmale, nämlich die tschetschenische Volkszugehörigkeit des Klägers zu 1) anknüpfen. Dass der Kläger zu 1) nicht unmittelbar im Anschluss an seinen "Freikauf" ausgereist ist, sondern erst im Oktober 2002 sein Heimatland verlassen hat, lässt den erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen seiner Ausreise und der erlittenen Verfolgung nicht entfallen. Der Kläger zu 1) musste nämlich befürchten, wegen des Vorwurfs der Unterstützung tschetschenischer Rebellen erneut verhaftet und misshandelt zu werden, da nach seinen glaubhaften Angaben sich sein Name auf einer Fahndungsliste der in der Nähe seines Heimatortes stationierten russischen Sicherheitskräfte befand.

Dass dem Kläger zu 1) im Zeitpunkt seiner Ausreise eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zur Verfügung stand, ist nicht erkennbar. Nach Auswertung der Auskunftslage lässt sich nämlich nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit ausschließen, dass der Kläger zu 1), der als mutmaßlicher Unterstützer tschetschenischer Rebellen bereits aktenkundig geworden ist, auch dort vergleichbaren Übergriffen russischer Behörden ausgesetzt gewesen wäre (Vgl. hierzu Ad-hoc Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 13.12.2004 und 27.11.2002 a. a. O., wonach infolge der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 sich der Kontrolldruck gegenüber Tschetschenen wie auch anderen Personen kaukasischen Aussehens in Moskau und anderen Teilen Russlands signifikant erhöht habe, diese Personen unter einer Art Generalverdacht stünden und verstärkten diskriminierenden Kontrollmaßnahmen sowie staatlicher Willkür ausgesetzt seien).

Auch die Befürchtung der Kläger zu 2) bis 4), mit Blick auf das Verfolgungsschicksal des Klägers zu 1) insoweit Opfer von Sippenhaft zu werden, ist unzweifelhaft nicht geeignet, für diese eine eigene Verfolgungsgefahr zu begründen. Abgesehen davon, dass der Begriff der "Sippenhaft" in der Russischen Föderation nicht bekannt ist (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Ansbach vom 26.04.1996 - 514-516.00/23611 -), haben die Kläger zu 2) bis 4), deren Verwandte zum Teil nach wie vor in der Russischen Föderation leben, auch nicht ansatzweise einen Sachverhalt vorgetragen, der eine solche Befürchtung gerechtfertigt erscheinen ließe.

Einer Abschiebung der Kläger zu 2) und 3) in die Russische Föderation steht schließlich auch nicht das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.

Zwar ist in dem ärztlichen Attest des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. ... von 09.07.2004 unter Hinweis darauf, dass die Klägerin zu 2) an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, ausgeführt, dass ein schweres Störungsbild bestehe, das der psychotherapeutischen Behandlung durch einen in der Behandlung von Kriegsopfern erfahrenen Traumatherapeuten bedürfe, sowie eine Unterbrechung der aktuellen Behandlung und eine Abschiebung ins Heimatland gegen den Willen der Klägerin zu 2) bedeuten würde, dass sie den krankheitsauslösenden Reizen und Erinnerungen in massiver Weise erneut ausgesetzt würde und dann mit einer erheblichen Verschlechterung der Erkrankung und unberechenbaren Reaktionen, die auch suizidale Handlungen einschlössen, zu rechnen sei. In seinem aktuellen Attest vom 17.02.2005 wird ferner erneut darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin zu 2) eine posttraumatische Belastungsstörung vorliege sowie nach wie vor eine schwere depressive Verstimmung bestehe, so dass die begonnene Behandlung dringend fortgeführt werden müsse. Daraus kann für die Klägerin zu 2) allerdings kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG hergeleitet werden. Nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass eine Behandlung der Erkrankung der Klägerin zu 2) in der Russischen Föderation nur unzureichend möglich wäre. Die bei der Klägerin zu 2) diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung ist in der Russischen Föderation vielmehr sowohl psychotherapeutisch als auch medikamentös behandelbar; ferner gibt es in der Russischen Föderation auch ambulant behandelnde Psychiater und Psychologen (Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an die erkennende Kammer vom 29.06.2002 - 508-516.80/39792 - und an VG Stuttgart vom 13.06.2001 - 508-516.80/37899 - sowie Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.03.2004 a. a. O., wonach die Versorgung mit Medikamenten zumindest in den Großstädten gut sei und neben russischen Produkten gegen entsprechende Bezahlung auch viele importierte Medikamente erhältlich seien.).

Dass die ärztlicherseits für erforderlich gehaltene psychotherapeutische Behandlung der als posttraumatische Belastungsstörung diagnostizierten Erkrankung der Klägerin zu 2) für diese trotz der in der Russischen Föderation insofern grundsätzlich vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten aus finanziellen oder sonstigen Gründen voraussichtlich nicht erlangbar wäre, vermag die Kammer nicht festzustellen.