OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.01.2005 - 8 A 1242/03.A - asyl.net: M6366
https://www.asyl.net/rsdb/M6366
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Krankheit, Posttraumatische Belastungsstörung, Paranoid-halluzinatorische Psychose, Psychische Erkrankung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Yesil Kart, Grüne Karte, Mitgabe von Medikamenten, Betreuungsbedürftigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungshindernisses. Rechtsgrundlage für diese Feststellung ist nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, Seite 1950) nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG (dazu 1.).

Das Abschiebungshindernis ergibt sich jedoch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, er leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine psychische Erkrankung, vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl. 2002, Stichwort "Belastungsstörung, posttraumatische"; Haenel, zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen, ZAR 2003, 18; agah, ai, AWO, Caritas, Diakonie u.a.: Trauma und Abschiebung - eine Positionsbestimmung -, Stand: Juni 2004 m.w.N.; aus juristischer Sicht: Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBI. 2004, 150; Treiber: Flüchtlingstraumatisierung im Schnittfeld zwischen Justiz und Medizin, ZAR 2002, 282; Birck, Zur Erfüllbarkeit der Anforderungen der Asylanhörung für traumatisierte Flüchtlinge aus psychologischer Sicht, ZAR 2002, 28; Marx, Humanitäres Bleiberecht für posttraumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, InfAuslR 2000, 357, die grundsätzlich, vornehmlich bei einer drohenden Retraumatisierung, geeignet sein kann, ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen. Allerdings ist die Behandlung psychischer Erkrankungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen in der Türkei grundsätzlich sicher gestellt (so schon OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A , UA S. 110; vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, S. 47, und Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei"; Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland Istanbul, Auskunft an das Landeseinwohneramt Berlin vom 16. Juli 2003; Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 10. Februar 2003 an das VG Düsseldorf und vom 26. Februar 2004 an das VG Hannover; Kienholz (Schweizerische Flüchtlingshilfe): Die medizinische Versorgungslage in der Türkei, 13. August 2003, S. 19 f.) hält der Senat weiter fest. Soweit der Standard der gesundheitlichen Versorgung in der Türkei im Einzelfall, ohne dass dadurch eine erhebliche Gefahr für Leib oder Leben bedingt ist, nicht an den des deutschen heranreicht, ist das ohne Bedeutung.

Wenn ein Asylbewerber vor diesem Hintergrund substantiiert geltend macht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei schwerwiegende Gesundheitsgefahren - etwa wegen einer zu erwartenden erheblichen Verschlimmerung psychischer Leiden - drohen, die wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls medizinisch in der Türkei nicht ausreichend behandelt werden können, ist - in seltenen Ausnahmefällen - eine auf den Einzelfall bezogene detaillierte Sachverhaltsaufklärung erforderlich (So schon OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - UA S. 110 m.w.N.; vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 19. Mai 2004, Anhang "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei", S. 4; Lagebericht Türkei vom 20. März 2002, S. 47).

Es steht - auch nach dem Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewonnen hat - nicht in Zweifel, dass dieser unter einer psychischen Erkrankung leidet. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine posttraumatische Belastungsstörung, sondern um eine paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis.

Dem Kläger droht im Falle einer Abschiebung in die Türkei aber deshalb eine erhebliche Gefahr - zumindest - für seine Gesundheit, weil er an einer paranold- halluzinatorischen Psychose leidet. Die medizinische Behandlung dieser psychischen Krankheit ist allerdings in der Türkei gewährleistet und für den Kläger auch nicht aus finanziellen Gründen unerreichbar. Das konkrete Krankheitsbild macht aber über die medizinische Versorgung hinaus eine Betreuung erforderlich, die für den Kläger aufgrund besonderer Umstände seines Einzelfalls nicht gewährleistet ist, deren Ausbleiben für ihn jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gesundheitliche Beeinträchtigungen der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten Art und Schwere verursachen würde.

Das Vorliegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis ist durch die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten zur Überzeugung des Senats hinreichend belegt und wird auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine Dauererkrankung, die im Falle aktueller Exazerbationen eine stationäre und im Übrigen eine medikamentöse Behandlung erfordert (vgl. zur Behandlungsbedürftigkeit als Voraussetzung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vom NRW, Beschluss vom 15. September 2003 - 13 A 2597/03.A-).

Nach den ärztlichen Stellungnahmen - zuletzt Attest des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. vom 7. Dezember 2004 - besteht die langfristig gebotene Therapie bei dem Krankheitsbild des Klägers in einer fortlaufenden ambulanten Depotmedikation unter fachpsychiatrischer Betreuung.

Grundsätzlich kann auch eine paranoide Psychose bzw. Schizophrenie in der Türkei adäquat behandelt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8. Februar 1999; Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 30. Januar 2002 an das VG Schleswig; Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 12. Juli 2001 an das Bundesamt).

Wie bereits ausgeführt bestehen in den staatlichen Krankenhäusern psychiatrische Stationen, die auch ambulant tätig werden und dementsprechend eine sich als erforderlich erweisende psychiatrische Weiterbehandlung - etwa Besprechungen - stationär wie ambulant ausreichend gewährleisten können. Art und Schwere der Erkrankungen sind nicht von Bedeutung. Die erforderlichen Medikamente sind ohne Schwierigkeiten erhältlich (vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 26. Februar 2004 an das VG Hannover). Neuroleptika gibt es in der Türkei in großer Auswahl (vgl. Deutsche Botschaft Ankara, Auskünfte vom 7. November 2002 an das VG Arnsberg, vom 9. August 2001 an das VG Aachen und vom 12. Juli 2001 an das Bundesamt).

Im Falle einer Abschiebung kann eine zeitnahe Anschlussbehandlung sichergestellt werden. Nach Auskunft des Generalkonsulats sind mit der Flughafenpolizei und dem medizinischen Dienst am Flughafen Instanbul Verfahrensweisen abgesprochen worden, die nötigenfalls eine sofortige Übernahme der Behandlung sicherstellen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/93.A - UA S. 110/111 m.w.N.).

Die Durchführung einer notwendigen Behandlung insbesondere mit Medikamenten würde auch nicht an einer eventuellen Mittellosigkeit des Klägers scheitern. Für mittellose Kranke, die die erforderlichen Mittel nicht von ihrer Familie erhalten, besteht die Moglichkeit, bei der Gesundheitsverwaltung die Ausstellung der "yesil kart" (Grüne Karte) zu beantragen, die zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung in staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Eine sofortige Behandlung von akut erkrankten Personen ist auch schon während des Zeitraums bis zur Ausstellung der Grünen Karte im staatlichen Gesundheitssystem möglich; zudem kann der Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanismayi Tesvik Fonu, in etlichen Auskünften auch als "Stiftung für Sozialhilfe" bezeichnet) eintreten, wenn und soweit die Kosten medizinischer Versorgung durch die yesil kart nicht gedeckt sind. Ist danach in der Regel davon auszugehen, dass ein mittelloser psychisch Kranker die von ihm dauerhaft benötigte medizinische Behandlung einschließlich der verordneten Arzneimittel erlangen kann, kann gleichwohl in EinzelfälIen Abweichendes gelten, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass mit Hilfe der Grünen Karte, des Förderfonds für Sozialhilfe und Solidarität oder religiöser Stiftungen eine medizinisch erforderliche Behandlung nicht, nicht rechtzeitig oder nicht im erforderlichen Umfang sichergestellt werden kann und der Betroffene diese auch unter Berücksichtigung denkbarer Hilfen durch Familie, Freunde oder - für eine Übergangszeit - auch der Ausländerbehörde hierzu wirtschaftlich voraussichtlich nicht wird finanzieren können (so schon OVG NRW, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 110.).

Dies zugrunde gelegt ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass dem Kläger die erforderliche medizinische Behandlung einschließlich der laufenden Arzneimittelversorgung in der Türkei aus finanziellen Gründen versagt bleiben wird. Konkrete Anhaltspunkte für eine derartige Annahme macht der Kläger nicht geltend; mit den in der Türkei bestehenden Hilfsangeboten setzt er sich nicht substantiiert auseinander. Gesichtspunkte, die die Finanzierbarkeit der vom Kläger benötigten medizinische Versorgung in Frage stellen, sind auch sonst nicht übersichtlich. Da sich die zuständige Ausländerbehörde mit Schreiben vom 16. Dezember 2004 bereit erklärt hat, den Kläger im Fall der Abschiebung oder freiwilligen Ausreise in die Türkei für eine Übergangszeit von zwei bis drei Monaten mit einem Vorrat der erforderlichen Medikamente zu versorgen, ist ungeachtet der in der Türkei für derartige Übergangszeiten in Betracht kommenden staatlichen und privaten Hilfen jedenfalls der Zeitraum bis zur Bearbeitung des Antrags auf Ausstellung der yesil kart abgedeckt.

Eine zielstaatsbezogene Gefahr i.S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht für den Kläger in der Türkei aber deshalb, weil er die notwendige Behandlung bzw. Medikation aus anderen als finanziellen Gründen, nämlich wegen fehlender Überwachung und Betreuung nicht erlangen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 66 = DVBI. 2003, 463).

Das WestfäIische Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik hat dem Kläger in dem Gutachten vom 4. Dezember 2001, S. 8, und nochmals im Entlassungsbericht vom 9. Januar 2003 mangelnde Krankheitseinsicht, daraus resultierende Nichteinnahme von Medikamenten und die dementsprechende Notwendigkeit einer permanenten Gesundheitsbetreuung bescheinigt. Der mit der ambulanten Behandlung des Klägers betraute Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. hat dies in seinen Attesten vom 19. Oktober 2004 und vom 7. Dezember 2004 bestätigt.

Hiernach stellt die Betreuung des Klägers erhebliche Anforderungen an die Person, die diese Aufgabe übernimmt, einen Kranken auch und gerade dann in der geschilderten Weise zu überwachen, wenn er sich der Betreuung ausdrücklich widersetzt, verlangt der Betreuungsperson ein hohes Maß an Verständnis für die vorliegende psychische Erkrankung, ausgeprägte Nervenstärke und nicht zuletzt Durchsetzungskraft ab. Gemessen an den vorstehend beschriebenen Anforderungen an die Betreuungsperson ist nicht erkennbar, dass die notwendige Betreuung des Klägers in der Türkei sichergestellt wäre. In Betracht kommt insoweit zunächst eine Betreuung durch Familienangehörige, insbesondere seine Ehefrau, die ihn auch bislang betreut. Fraglich erscheint schon, ob sie überhaupt bereit ist, ihrem Ehemann in die Türkei zu folgen. Anhaltspunkte dafür, dass eine Respektsperson in der Türkei zur Verfügung steht, die die Betreuung des Klägers zusammen mit seiner Ehefrau oder auch allein gewährleisten könnte, sind nicht ersichtlich. Es spricht auch nichts dafür, dass die erforderliche Betreuung des Klägers außerhalb der Familie gewährleistet werden könnte. Soweit die Beklagte auf die Existenz von Einrichtungen für geistig Behinderte verweist, ist bereits nicht ersichtlich, dass der an einer psychischen Krankheit leidende, aber intellektuell nicht minderbegabte Kläger zu dem Personenkreis zählt, der Aufnahme in einer derartigen Einrichtung finden kann. Dauereinrichtungen für psychisch Kranke, seien es offene oder geschlossene Psychiatrien, Wohnheime im geschützten Raum oder betreute Wohneinheiten außerhalb, sind in der Türkei nicht vorhanden (vgl. Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul, Auskunft vom 16.Juli 2003 an das Landeseinwohneramt Berlin).

Davon abgesehen kommt eine Unterbringung in einem Heim oder in einer Wohngruppe im Fall des Klägers, bei dem insbesondere das Zusammensein mit anderen Menschen zu Ängsten und in deren Folge zu aggressiven Ausbrüchen seiner Psychose führt, nach dem medizinischen Befund nicht ernstlich in Betracht. Wie die Gutachterin des Westfälischen Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in E. bereits in ihrem Gutachten vom 9. April 2002 ausgeführt hat, ist eine Heimunterbringung aufgrund der problematischen Kindheit und Jugend, die der Kläger in einem Waisenhaus verbracht hat, "aus ärztlicher Sicht kontraproduktiv"; vielmehr ist es aus ärztlicher Sicht notwendig, dass der Kläger in einer abgeschlossenen Wohnung leben kann.

Bleibt der Kläger nach einer Abschiebung in die Türkei ohne ausreichende Betreuung, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er die benötigten Medikamente nicht erhält; das bedeutet zugleich, dass für ihn die Gefahr gesundheitlicher Beeinträchtigungen der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorausgesetzten Art und Schwere besteht.