VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 22.12.2004 - RO 1 K 04.30483 - asyl.net: M6262
https://www.asyl.net/rsdb/M6262
Leitsatz:

Weiterhin mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden; keine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei, da auch hier Verfolgungshandlungen drohen und die wirtschaftliche Existenz nicht gewährleistet ist.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Jesiden, religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Glaubwürdigkeit, Schutzbereitschaft, Verfolgungsdichte, Vertreibung, Interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Schikanen im Wehrdienst, Wehrdienstentziehung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die Beklagte ist verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Hinblick auf den Herkunftsstaat Türkei vorliegen.

Das Gericht ist unter Würdigung aller Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger als Yeziden (...) die Türkei verließen. Als Angehörige dieser Religionsgemeinschaft konnten sie - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen - aus guten Gründen Furcht davor haben, in ihrer Heimat jederzeit und ehestens selbst den Anfeindungen und Nachstellungen von Sicherheitsorganen und insbesondere der muslimischen Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt zu sein, ohne dagegen ausreichenden Schutz durch staatliche Behörden zu finden. Dieser Gefahr konnten sie sich auch nicht durch den Umzug in einen anderen Landesteil der Türkei entziehen.

Die Kläger haben glaubhaft gemacht, dass sie der yezidischen Glaubensgemeinschaft angehören.

Aufgrund der Anhörung der Kläger vor dem Bundesamt, insbesondere aber in der mündlichen Verhandlung vom 14.10.1998, haben die Kläger auch glaubwürdig den Eindruck vermittelt, dass sie im yezidischen Glauben erzogen wurden; sie wurden insbesondere yezidisch getauft und haben beim Scheich in Anwesenheit des Pirs in (...) geheiratet. Sie wussten auch über wesentliche Inhalte des yezidischen Glaubens Bescheid, z.B. über Melek Taus als das für den yezidischen Glauben zentrale höhere Wesen, über Fastengebote, Tauf-, Hochzeits- und Beerdigungsriten, über den Beschneidungspaten und den Jenseitsbruder, über das verbotene Wort und über Essens- und Kleidertabus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den Klägern um Analphabeten handelt, von denen nicht verlangt werden kann, ihr gesamtes Glaubensgut wie einen Katechismus auf entsprechende Fragen Iückenlos präsentieren zu können.

Auf der Grundlage der vorliegenden Auskünfte und Gutachten ist das Gericht davon überzeugt, dass die Yeziden in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet im Südosten der Türkei aus religiösen Gründen einer Gruppenverfolgung durch die muslimische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt sind, die dem türkischen Staat zuzurechnen ist, weil er den Yeziden generell keinen Schutz vor gewalttätigen Übergriffen gewährt (ebenso: BayVGH, Urt. v. 15.4.1994 Az. 11 B 90.31495; OVG Niedersachsen, Urt. v. 18.11.1997 Az. 11 L 4327/97; OVG Nordrhein-Westfalen Beschl. v. 28.4.1997 Az. 25 A 1912/97.A).

Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 15.5.1990 (DVBI 1990, 1064) und 15.1.1991 (EZAR 203 Nr. 6) noch in Zweifel gezogen hatte, dass die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte nachgewiesen sei, wurden diese Zweifel durch die grundlegend geänderte Beurteilung der Situation durch das Auswärtige Amt (a.a.O.) und durch die nach allgemeiner Auffassung seither nahezu abgeschlossene Verdrängung der Yeziden aus ihrer Heimat ausgeräumt. Wenn nunmehr zwischen 80 % und 90 % der Yeziden ihre angestammte Heimat verlassen haben, und nur noch einige alte Leute in den ehemaligen Yezidendörfern zurückgeblieben sind, so liegt eine nahezu flächendeckende Massenvertreibung auf der Hand.

Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die Verdrängung der Yeziden religiös motiviert ist nämlich auf den ausgrenzenden Hass und die tiefe Verachtung der Yeziden als Teufelsanbeter, die sich durch die Leugnung der Einzigkeit Gottes einer Todsünde schuldig machten, zurückzuführen ist (vgl. Berner, Gutachten vom 22.2.1982 für das VG Stade; Prof. Dr. Dr. Wießner, Gutachten vom 10.7.1991 für das OVG Nordrhein-Westfalen; Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 9.12.1993 an das OVG Hamburg). Die Art der Übergriffe der muslimischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Yeziden, nämlich Zwangsbekehrungen, willkürliche Tötung oder Verletzung von Yeziden, Entführung und Vergewaltigung yezidischer Mädchen, Raub von Land und Vieh der Yeziden, lassen erkennen, dass die Yeziden wegen ihres Glaubens als rechtlos angesehen werden, und bestätigen den religiösen Ursprung ihrer Unterdrückung.

Dass der türkische Staat nichts gegen die Übergriffe auf und den Raub an Yeziden unternimmt, räumt auch das Auswärtige Amt ein (vgl. Lagebericht Türkei vom 22.8.1994; Auskunft vom 28.11.1993 an das OVG Hamburg). Dies ist aber nicht erst auf die Situation in den Notstandsgebieten zurückzuführen, wie das Auswärtige Amt meint. Vielmehr haben andere Sachverständige seit Jahren überzeugend dargelegt, dass den Organen des türkischen Staates aus verschiedenen Gründen jedes Interesse am Schutz der Yeziden fehlt, dass der türkische Staat vielmehr daran interessiert ist, die Macht der Agas zu erhalten und zu stärken, obwohl diese wesentlich zur Unterdrückung und Verdrängung der Yeziden beigetragen haben (vgl. Wießner, Sternberg-Spohr, amnesty international a.a.O.).

Die Kläger hatten im Zeitpunkt ihrer Ausreise auch nicht die Möglichkeit, in einem anderen Teil der Türkei leben zu können, ohne dass ihnen andere Nachteile oder Gefahren drohten, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylrelevanten Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen oder religiösen Gründen gleichkamen.

Der Kläger hat auch glaubhaft über Diskriminierungen berichtet, die ihm während des Wehrdienstes widerfahren sind und die seine individuelle Verfolgung als Yezide einsichtig machen.

Unter Berücksichtigung dieser Vorfluchtgründe kann den Klägern auch derzeit (§ 77 Abs.1 Satz 1 AsylVfG) noch nicht zugemutet werden, in die Türkei zurückzukehren, da auch nach den neuesten vorliegenden Informationen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass es auch in naher Zukunft noch zu staatlich geduldeten Übergriffen gegen Yeziden kommen wird, zumal die wenigen noch im Südosten der Türkei lebenden Yeziden einem erhöhten Druck der muslimischen Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt sind und einander kaum Hilfe und Schutz gewähren können.

Auch bei den vorstehend beschriebenen Umständen, die einer inländischen Fluchtalternative entgegenstehen, hat sich nach der Auskunftslage keine Besserung der Verhältnisse ergeben. Vielmehr schreitet die Renaissance des Islams weiter fort und wirkt sich auf allen Ebenen des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens aus. Es fehlen daher Anhaltspunkte dafür, dass die Toleranz gegenüber Yeziden, die nicht zum Islam übergetreten sind, heute größer wäre als im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger.

Zu einer anderen Einschätzung der Gefährdungslage führt im Hinblick auf die persönliche Situation der Kläger auch nicht der Umstand, dass sie in der mündlichen Verhandlung vom 22.12.2004 übereinstimmend erklärten, sie seien als Yeziden nach Deutschland gekommen, hätten jahrelang im Rahmen ihrer eng begrenzten Möglichkeiten die yezidische Religion (insbesondere durch Fasten, Taufe der ersten beiden Kinder, Kontaktaufnahme mit ihrem Scheich) ausgeübt, fühlten sich aber mittlerweile als Christen, fasteten deshalb nicht mehr nach yezidischer Übung und hätten ihr jüngstes Kind nicht mehr nach yezidischem Ritus taufen lassen. Diese aufgrund der persönlichen Zuwendung durch Mitglieder einer Kirchengemeinde erklärbare Entwicklung bedeutet noch keine unwiderrufliche Abwendung vom yezidischen Glauben; diese könnte vielmehr erst in einem Übertritt zum Christentum, nachgewiesen durch die christliche Taufe der Kläger, gesehen werden.

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Kläger im Hinblick auf seinen verbliebenen Restwehrdienst nach wie vor von den Behörden gesucht wird, wie sich aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16.6.2004 ergibt.